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Nachwort zum Buch von Prof. Dr. Konrad Löw: „Adenauer hatte recht – warum verfinstert sich das Bild der unter Hitler lebenden Deutschen?“
2. Auflage 2016, ISBN 978-3-945127-100. Dort abgedruckt auf den Seiten 218 – 221.
Mehr über dieses Buch steht hier [www.viul.de/buch-adenauer-hatte-recht.html]. Das Buch ist doch auch bestellbar für 9,90 €.

Nachwort
     Mit dieser Schrift geht Professor Konrad Löw der Frage nach, warum sich das Bild der Deutschen, die unter Hitler lebten, immer mehr verfinstert. Seine Überlegungen geben Anlass zu ernstem Nachdenken. Bereits als junger Geschichtsstudent an der Harvard Graduate School of Arts and Sciences 1967–70 wurde ich mit „Warum der Holocaust?“ und „Warum in Deutschland?“ konfrontiert. Seinerzeit fanden wir keine Antwort. Allerdings war es mir schon damals klar, dass es „die“ Deutschen nicht gab, genauso wenig wie „die“ Amerikaner oder „die“ Franzosen. Als Fulbright Stipendiat im Deutschland der 70er Jahre interviewte ich Hunderte von Zeitzeugen, jüdische Überlebende der Shoah, deutsche Überlebende von Konzentrationslagern, Diplomaten, Politiker, Militärs, ehemalige NSDAP Mitglieder, NS-Sympathisanten, NS-Gegner, Deutsche der Kriegsgeneration und der Generation der Kinder und Enkel, immer nach der Maxime audiatur et  altera pars, um möglichst viele Meinungen zu hören. Ich fragte und hinterfragte sie. Ich war bemüht, mich in die Situation der Jahre 1933–45 zu versetzen, um die komplexe Problematik nicht – bzw. jedenfalls nicht vorrangig oder gar ausschließlich – aus der Perspektive der Nachkriegszeit und mit dem Wissensstand nach den Nürnberger Prozessen zu interpretieren, sondern im Kontext der Epoche.
     Löw weist in diesem Buch auf wissenschaftliche, gesellschaftliche, moralische und menschenrechtliche Dimensionen der Beschäftigung mit der Frage der Schuld hin. Es geht ihm u. a. um die Forschungs- und Meinungsfreiheit, um die Notwendigkeit des Pluralismus in einer demokratischen Gesellschaft.
     Erst kürzlich hat der UNO-Menschenrechtsausschuss in seinem General Comment Nr. 34 über Artikel 19 des Paktes über bürgerliche und politische Rechte dieses Recht der Bürger, sich eine eigene Meinung zu bilden und diese ohne Einschüchterung oder Diffamierung zu verbreiten, bekräftigt . Die UN Hochkommissarin für Menschenrechte hat außerdem das „Recht auf Wahrheit“ bekräftigt und der UN Menschenrechtsrat hat 2012 die Funktion eines Sonderberichterstatters über das Recht auf Wahrheit etabliert .
     Dieses neue Recht ist in erster Linie ein Informationsrecht: Die Angehörigen von Opfern schwerer Menschenrechtsverletzungen sollen das international abgesicherte Recht erhalten, Auskunft über den Verbleib ihrer Familienangehörigen zu bekommen und darüber, wer für das Leiden und den Tod dieser Menschen verantwortlich ist. Es ist aber auch ein Freiheitsrecht: Medien und Wissenschaftler haben das Recht auf Zugang zu Dokumenten über solche Verbrechen, staatliche oder eventuell auch privat organisierte Vertuschung und Verfälschung soll in Zukunft selbst als ein Verstoß gegen die Menschenrechte gelten. Es wäre dagegen ein Missverständnis, den Begriff „Recht auf Wahrheit“ so zu verstehen, dass ein Gesetzgeber eine bestimmte Deutung der Vergangenheit als einzig zulässig fixieren und danach abweichende Sichtweisen – womöglich mit den Mitteln des Strafrechts – sanktionieren dürfte. Das „Recht auf Wahrheit“, genauer: „Das Recht, die Wahrheit zu erfahren“ („The right to know the truth“), an dessen Formulierung und Durchsetzung die UNO heute arbeitet, soll also die Freiheit der Wissenschaft keineswegs einschränken, sondern fördern.
     In diesem Sinne liefert Löw Impulse, wie man „die Frage aller Fragen“ über die Haltung der Deutschen in der NS-Zeit umfassender und methodisch korrekt untersuchen kann. Pauschale Urteile helfen niemandem. In einem FAZ-Artikel moniert der tschechische Professor Bohumil Doležal den merkwürdige Kult um die deutsche Schuld: „Auch die Deutschen haben sich mit dem Zweiten Weltkrieg nicht wirklich auseinandergesetzt: Sie finden sich nur ab mit der Rolle des ewigen Prügelknaben. Doch eine spektakuläre Selbsterniedrigung zeugt noch nicht von wirklicher Reflexion.“ Löw zeigt uns, dass die Wahrheitsfindung, die „Bewältigung“ der Vergangenheit, nur durch offene Diskussion möglich ist – und jedenfalls nicht durch Dogmen, Tabus oder die Einschüchterung Andersdenkender. Die Usurpierung der Schuld durch manche deutsche Journalisten, Politiker und Zeithistoriker stellt einen epistemologisch unredlichen Sonderweg dar, eine Zumutung gegenüber allen, die eine differenzierte Betrachtung der Geschichte verlangen.
     Als Wissenschaftler ist es mir zuwider, wenn billige Verallgemeinerungen die Geschichte einer Epoche prägen. Auch als Präsident des PEN International Centre Suisse romand bin ich stets für Forschungs- und Meinungsfreiheit eingetreten, und habe gegen Stereotype, Vorurteile und Karikaturen Front gemacht. Als Chef der Petitionsabteilung im Büro des UNO Hochkommissars für Menschenrechte habe ich dafür Verantwortung getragen, dass die Gleichberechtigung aller Menschen respektiert wird und habe für die Anerkennung und Rehabilitierung aller Opfer – ob Juden, Palästinenser, Polen, Russen, Bosnier, Kosovaren, Ruander, Amerindios, Aborigenes oder Deutsche – plädiert.
     Aus Löws Schriften geht hervor, dass sich die deutsche Geschichtswissenschaft zur Zeit in einer Art Identitätskrise befindet, wenn nicht in einer Krise ihrer professionellen Standards, denn manche Historiker scheinen die Rankesche Devise vergessen zu haben, wonach es bei der Geschichtsschreibung primär um Tatsachen geht, und betreiben stattdessen eine Art „axiomatische“ Geschichtsschreibung, eine ideologische, politisierende, polemisierende Darstellung der Vergangenheit. Eine absurde Pointe dieses Sonderweges ist, dass damit sogar methodische Fehlentwicklungen der deutschen Geschichtswissenschaften im Nationalsozialismus wiederholt werden – nur mit umgekehrten Vorzeichen.
     Als amerikanischer Beobachter des deutschen Zeitgeschehens kann ich aus eigener Erfahrung feststellen, dass in den 70er und 80er Jahren deutlich größere Freiheit der Wissenschaft herrschte als heute, dass Historiker wie u. a. Gordon Craig, Immanuel Geiss, Thomas Nipperdey, Hagen Schulze, Andreas Hillgruber durchaus ausgewogene Zeitgeschichte schrieben. Dies erlebte einen schweren Rückfall durch den so genannten „Historikerstreit“ 1986/1987, der in Unterstellung, Diffamierung, Mobbing, Denunziantentum und Niederträchtigkeit ausartete. Wissenschaftler schämten sich nicht, andere Wissenschaftler nach der Maxime calumniare audacter, semper aliquid haeret zu verleumden. Das Ergebnis war eine Verkrampfung und Verarmung der Geschichtswissenschaft in Deutschland. Schlimmer noch: eine Atmosphäre der Intoleranz ist entstanden, die die normalen Regeln der Geschichtsschreibung und des zivilisierten Diskurses sprengt. Anstatt mehr Objektivität und mehr Distanz zu gewinnen, verfestigten sich die Fehlurteile und die politisch erwünschten Geschichtsklitterungen. Es scheint, dass je länger die Kriegszeit zurückliegt, umso undifferenzierter ihre Geschichte gehandhabt wird. Eine Täter-Opfer-Schablone bewirkt eine primitive Schwarz-Weiß- Malerei. Darin sehe ich einen Niedergang der professionellen Standards und Sitten, eine Attacke gegen die Unabhängigkeit der Forschung, gegen das Ethos der Wissenschaft, ein Abrutschen schlechthin in totalitäre Paradigmen, wo ein „Wahrheitsministerium“ bestimmt, was Geschichte eigentlich sei und welche Staatswahrheiten widerspruchslos zu akzeptieren seien.
     Der verkrampfte Sonderweg, der nach dem Historikerstreit eingeschlagen worden ist, hat bereits manche faule Früchte getragen. Eine menschenverachtende Sprache ist entstanden, die z. B. die Kriegsgeneration als „Tätervolk“ und als „Volk der Mörder“ bezeichnet. Waren sie alle Täter? Waren sie alle Mörder? Wie steht es mit den großen unpolitischen Massen – damals wie heute? Wie steht es mit den Tausenden von Hitler-Gegnern, die ihren Widerstand mit dem Leben bezahlten? Es sind auch andere aus menschenrechtlicher Sicht problematische Wortschöpfungen entstanden, so z. B. „Relativierung“, „Aufrechnung“, „Berührungsängste“ und gar „Einzigartigkeit“. Was bedeutet eigentlich „Einzigartigkeit“? Wenn man damit meint, dass ein bestimmtes Geschehen einzigartig ist, ist die Feststellung banal, denn in diesem Sinne ist jedes Ereignis einzigartig. Wenn der Begriff aber bedeuten sollte, dass, wenn ein bestimmter Völkermord als einzigartig eingestuft wird, dann die anderen Völkermorde harmloser sind, dann stellt dies eine Verharmlosung dar, eine Art Negationismus des Leidens anderer Opfer.
     In den letzten Jahren lässt sich bei manchen Journalisten und Politikern in Deutschland ein pseudo-moralischer Sonderweg beobachten, wonach wachsende Teile der heutigen Nachkriegsgeneration einfach die Kriegsgeneration richten. Ich meine, man kann an die eigene Brust klopfen und sich schämen für das, was man getan oder unterlassen hat. Aber ohne konkreten Schuldnachweis auf die Brust anderer, der Eltern und Großeltern, zu schlagen scheint mir ganz unaufrichtig – und zudem nicht überzeugend. So ergibt sich die Vermutung, dass die zur Schau getragene bundesdeutsche Reue genauso opportunistisch und verlogen ist wie die Reue des Saliers Heinrichs IV. in Canossa. Diese Megalomanie der Reue und die ganze Kollektivschulddogmatik sind offensichtlich unwissenschaftlich. Darüber hinaus sind sie mit ihrem Schuldvorwurf an objektiv Unschuldige menschenverachtend und illustrieren eine totalitäre, anti- demokratische Gesinnung. Man fragt sich: wo bleibt die nüchterne Stimme der Historikerzunft? Warum schweigen so viele Historiker?
     Keine rechtsstaatlich denkende Gesellschaft, kein integrer Wissenschaftler sollte einer solchen Fehlentwicklung tatenlos zuschauen. Gegen solche intellektuelle und moralische Unredlichkeit muss Protest erhoben werden. Als Amerikaner spanischer Herkunft kenne ich die Massenmorde, begangen an den amerikanischen Autochthonen, von den Dominikanern Antonio de Montesinos und Bartolomé de las Casas eindrucksvoll dokumentiert und als Sünde gebrandmarkt. Auch ich halte den Völkermord an den „Indianern“ in Nord und Südamerika für eine Sünde, für ein „einzigartiges Verbrechen“. Aber man darf daraus keine allgemeine Verurteilung des spanischen oder des US-amerikanischen Volkes ableiten – und niemand käme auf den Gedanken, es zu tun. Genauso wenig dürfte man das gesamte russische Volk für die Verbrechen Stalins, das gesamte chinesische Volk für die Verbrechen Maos haftbar machen. Man verabscheue die Verbrechen und versuche zu begreifen, wie und warum sie geschehen sind.
     Ich begrüße die Aufrichtigkeit Löws, „die Frage aller Fragen“ zu stellen, sowie seinen Appell, darüber nachzudenken und ohne Polemik darüber zu diskutieren.
     Eigentlich ist Löws Anliegen ein eminent menschenrechtliches, denn es geht um die Ehre von Millionen Menschen, um die Menschenwürde einer ganzen Generation, die immer öfter und keineswegs nur von extremistischen Randfiguren pauschal verurteilt wird. Darum ist dieses ehrliche Buch so aktuell und notwendig, als ein Appell für eine umfassende Kontextualisierung der Geschichte und gegen Pauschalierung und Verallgemeinerung. Möge die deutsche Historikerzunft diesem Appell Folge leisten. Mit Immanuel Kant kann man nur sagen: Sapere aude!
Prof. Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas

     Ehemaliger Sekretär des UNO-Menschenrechtsausschusses und Chef der Petitionsabteilung im Büro des UNO Hochkommissars für Menschenrechte; Präsident, PEN International Zentrum Suisse romand.
     Autor des Buches „Völkermord als Staatsgeheimnis” (Olzog Verlag, 2011) und Träger des „Educators Award 2011” der Canadians for Genocide Education.
     Am 23. März 2012 wurde de Zayas vom UNO-Menschenrechtsrat zum „Unabhängigen Experten der Vereinten Nationen zur Förderung einer demokratischen und gerechten internationalen Ordnung“ (United Nations Independent Expert on the Promotion of a Democratic and Equitable International Order) ernannt.

Alfred de Zayas/Aurea Roldan „Freedom of Opinion and Freedom of Expression“ in Netherlands International Law Review 2012, (vol. LIX, S. 425–455)

www.ohchr.org/EN/Issues/TruthJusticeReparation/Pages/Index.aspx – Stand 25.10.2013

Bohumil Doležal, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. Juni 2005.

www.pensuisseromand.ch/membres.html – Stand 25.10.2013

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