„Eine geistige Kapitulation“
Der Volksrechtler Prof. Alfred de Zayas im DMZ-Gespräch
DMZ: Herr Professor de Zayas, in gleich mehreren Büchern widmen
Sie sich den Verbrechen an Deutschen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges.
In Deutschland wird in diesen Tagen kaum an die eigenen Opfer jener
Tage nach der Kapitulation der Wehrmacht gedacht. Woran liegt das?
De Zayas: Zunächst möchte ich daran erinnern, daß
ich Amerikaner spanisch-französischer Herkunft bin, und eben
nicht mit Deutschland „verwandt oder verschwägert“.
Von Belang ist auch die Tatsache, daß ich 22 Jahre lang im
UNO-Menschenrechtszentrum tätig war und heute als Völkerrechtsprofessor
Seminare über Menschenrechte halte. Im Bereich der Menschenrechte
gelten unumstößlich die Grundsätze der Gleichheit
und der Gleichbehandlung. Das bedeutet, alle Opfer von Menschenrechtsverletzungen
besitzen die gleiche Menschenwürde. Ich beobachte gerade in
Deutschland die menschenverachtende Neigung, bestimmte Opfer –
nämlich die eigenen – einfach zu ignorieren. Die Ursachen
hierfür können sein: Intellektuelle Unredlichkeit, Wertevergessenheit,
Anpassungsdrang, geistige Kapitulation und auch eine gehörige
Portion Verlogenheit.
Ich möchte in diesem Zusammenhang an den ersten UNO-Hochkommissar
für Menschenrechte, José Ayala-Lasso, erinnern, der
unermüdlich darauf hingewiesen hat, daß es keine politisch
korrekten und politisch inkorrekten Opfer geben könne und geben
dürfe. Alle Opfer haben einen Anspruch auf Anerkennung.
DMZ: Im Vorwort zu James Baques Buch Verschwiegene Schuld gehen
Sie hart mit den Alliierten des Zweiten Weltkrieges und deren Menschenrechtsverbrechen
ins Gericht. Sie erheben den Vorwurf, „das intellektuelle
Establishment, die Universitäten und die Presse“ hätten
es versäumt, sich „mit den Folgerungen aus diesen Ereignissen
ernsthaft auseinanderzusetzen“. Wie weit sind wir heute mit
der Aufarbeitung dieser Verbrechen tatsächlich?
De Zayas: Leider nicht sehr weit. Die geistige Lage in Deutschland
im Jahre 2005 ist in dieser Beziehung sehr viel wissenschaftsfeindlicher
als beispielsweise in den 1970er Jahren – damals war ich als
Fulbright-Stipendiat in Deutschland. Ich habe verfolgt, wie man
seitens der Wissenschaft und der Politik zunehmend den Deutschen
ausschließlich die Rolle der Täter zugesteht. Die eigenen
Opfer wurden, wenn sie überhaupt Erwähnung fanden, relativiert.
Ich finde es traurig, die immerhin zwei Millionen deutschen Opfer
der Vertreibung und die hunderttausende Opfer der Zwangsarbeit einfach
zu ignorieren.
DMZ: Weshalb ist die Zwangsarbeit Ihrer Meinung nach in diesem
Zusammenhang so wichtig?
De Zayas: Das muß man sich einmal vorstellen. Auf der Konferenz
von Jalta im Februar 1945 vereinbarten Roosevelt, Stalin und Churchill,
die besiegten Deutschen hätten umfangreiche „reparations
in kind“ zu leisten, also Reparationen in Form von Arbeitsleistungen
– damit wurde die Sklaverei in Europa offiziell von den Alliierten
wieder eingeführt. Eine Million Reichs- und Volksdeutsche wurden
zur Sklavenarbeit gezwungen und teils quer über den Kontinent
verfrachtet. Etwa 40 Prozent dieser Menschen überlebten dies
nicht. In diesem Zusammenhang ist noch kein Cent „Wiedergutmachung“
an die Opfer oder deren Hinterbliebene gezahlt worden. Das ist in
der Tat ein Problem. Denn allen anderen Zwangsarbeitern stehen Entschädigungsgelder
zur Verfügung, nur den deutschen Opfern nicht – ihnen
wird sogar der Status eines Opfers verwehrt. Das halte ich für
menschenverachtend.
DMZ: Die offiziellen deutschen Repräsentanten feierten den
8. Mai unlängst als „Tag der Befreiung“, Sie sprechen
dagegen von einer Wiedereinführung der Sklaverei – wie
kommt es zu so gegensätzlichen Bewertungen?
De Zayas: Die Verwendung des Begriffs „Befreiung“ in
diesem Zusammenhang hat etwas Unredliches. Kein amerikanischer,
britischer, französischer oder gar sowjetischer Politiker dachte
damals daran, Deutschland zu „befreien“. Die Alliierten
hatten nur eines im Sinn, nämlich Deutschland zu erobern, das
Deutsche Reich zu vernichten. Deutschland wurde daher auch als „erobertes
Feindesland“ behandelt. Alles andere, was man heute über
„Befreiung“ liest, ist daher nur politisch zu verstehen,
mit Geschichtswissenschaft hat dies absolut nichts zu tun.
DMZ: Einer Ihrer Kernkritikpunkte ist die Behandlung der deutschen
Kriegsgefangenen. Seien diese noch vor der Kapitulation weitgehend
anständig behandelt und verpflegt worden, habe sich dies danach
schlagartig zum Negativen geändert. Woran liegt das?
De Zayas: Die Behandlung der deutschen Kriegsgefangenen in westalliiertem
Gewahrsam erfolgte während des Krieges weitestgehend gemäß
den Statuten der Genfer Konvention. Allerdings dauerte diese rechtmäßige
Behandlung nur so lange die Gefahr bestand, daß die westalliierten
Kriegsgefangenen in den deutschen Gefangenenlagern ebenfalls schlecht
behandelt würden. Der Grund für die zunächst anständige
Behandlung der deutschen Gefangenen liegt also in der Gegenseitigkeit,
der Reziprozität. Vieles im Völkerrecht steht und fällt
mit dieser Reziprozität. In dem Augenblick, wo die Deutschen
besiegt waren, änderte sich die Situation schlagartig. So wie
mein Präsident George W. Bush den Status der „Illegal
Combattants“ (Illegale Kämpfer) entdeckt hat, der im
Völkerrecht ungebräuchlich ist, hat die amerikanische
Regierung nach 1945 für die deutschen Gefangenen ebenfalls
solch einen Terminus technicus erfunden: „Surrendered Enemy
Personnel“ (SEP). Dabei waren dies natürlich nach wie
vor normale Kriegsgefangene. Das Internationale Komitee des Roten
Kreuzes hat damals verlangt, daß diese Menschen weiterhin
gemäß der Konvention von 1929 behandelt werden –
die Amerikaner und Engländer haben sich darum allerdings einen
Dreck geschert. Durch die schlechte Behandlung kamen viele der Gefangenen
um, übrigens nicht nur in den Rheinwiesenlagern, sondern in
den meisten Kriegsgefangenenlagern der westlichen Alliierten.
DMZ: Waren die Siegertribunale über Deutschland Ihrer Ansicht
nach mehr von der Sehnsucht nach Gerechtigkeit oder nach Rache getragen?
De Zayas: Die Siegertribunale waren halt – wie der Name bereits
sagt – Tribunale der Sieger über die Besiegten. Sinn
der Sache war die exemplarische Bestrafung der militärischen
und politischen Führer des Deutschen Reiches. Mit Japan wurde
ebenso verfahren. Die Besiegten sollten gedemütigt und wie
Verbrecher behandelt werden. Das war, wenn man so will, eine Fortsetzung
des Krieges mit anderen Mitteln. In den Akten der Nürnberger
Prozesse ist kaum etwas über Gerechtigkeit zu lesen, dafür
um so mehr über Strafe. Erst in der Nachbetrachtung dieses
Tribunals hat eine Beschönigung der Prozesse stattgefunden.
Man hat sie geradezu idealisiert und nachträglich Gerechtigkeitsinteressen
hineininterpretiert. Aber das ist eine Mythologisierung der Nürnberger
Prozesse und hat nichts mit der Realität zu tun.
DMZ: Welches sind Ihre inhaltlichen Hauptkritikpunkte an den „Nürnberger
Prozessen“?
De Zayas: Wie bereits erwähnt ist es sehr kritikwürdig,
daß es überhaupt ein „Siegertribunal“ war.
Es waren dort keine internationalen Richter vertreten. Man hätte
ohne weiteres neutrale Richter, beispielweise aus der Schweiz, aus
Schweden oder aus asiatischen bzw. südamerikanischen Staaten,
bestellen können. Man hätte auch, wie ich in einem Beitrag
in Macht und Recht von Professor Alexander Demandt geschrieben habe,
deutsche Richter hinzuziehen können. Eine Verhandlung auf der
Grundlage deutschen Rechts wäre ohne Probleme möglich
gewesen, darauf hatte bereits 1945 der ehemalige Reichskanzler Heinrich
Brüning hingewiesen.
Der zweite Kritikpunkt ist, daß die Rechtsprechung dieses
Tribunals zum Teil auf „ex post factum“-Gesetzgebung
beruht, vor allem in Bezug auf den Anklagepunkt der Vorbereitung
eines Angriffskrieges. 1939 gab es ein solches Gesetz jedenfalls
noch nicht. Heute ist beispielsweise der Aggressionskrieg als Verbrechen
anerkannt, dies war aber zum Zeitpunkt des Ausbruchs des Zweiten
Weltkrieges nicht der Fall. Demnach müßte heute auch
US-Präsident Bush wegen des Irakkrieges verurteilt werden.
Weiter hätte man in Nürnberg beispielsweise die Sowjetunion
ebenfalls für ihre Angriffe auf Polen und Finnland 1939 verurteilen
müssen. Wegen dieser Angriffe wurde die Sowjetunion damals
immerhin aus dem Völkerbund ausgeschlossen.
Drittens wurden in Nürnberg ausschließlich die Verbrechen
der Besiegten verhandelt, obwohl sich die Alliierten selbst in großem
Ausmaß an Kriegsverbrechen und an Verbrechen gegen die Menschlichkeit
beteiligt hatten. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang
der alliierte Bombenkrieg gegen die deutsche Zivilbevölkerung,
den man mit Recht staatlichen Terror nennen kann. Die Doppelmoral
der Nürnberger Prozesse sieht man vor allem auch am Beispiel
des Verbrechens der Vertreibung. Die Deutschen wurden wegen der
Vertreibung von etwa einer Million Polen ins Generalgouvernement
und von etwa 105.000 Franzosen aus dem Elsaß ins Vichy-Frankreich
angeklagt – gleichzeitig wurden über 15 Millionen Deutsche
aus ihrer Heimat vertrieben, ohne daß dies jemals Gegenstand
eines Gerichtsverfahrens wurde. So etwas macht Nürnberg unglaubwürdig.
Ich möchte in diesem Zusammenhang den US-Hauptankläger
Robert Jackson zitieren, der zu den Nürnberger Urteilen anmerkte:
„Lassen Sie es mich deutlich aussprechen. Dieses Gesetz wird
zwar zunächst auf die deutschen Angreifer angewandt. Es muß
aber, soll es von Nutzen sein, den Angriff jeder Nation verdammen,
auch jene nicht ausgenommen, die hier zu Gericht sitzen.“
Dieser Satz ist allerdings wertlos, bedenkt man, daß in Nürnberg
beispielsweise die Sowjetunion ebenfalls zu Gericht saß, ohne
daß sie für ihre Aggressionen gegen Polen und Finnland
zur Rechenschaft gezogen wurde.
DMZ: Sehen Sie, etwa in Guantanamo oder den Geschehnissen in Abu
Ghraib eine Traditionslinie zu den Ereignissen in Deutschland nach
1945?
De Zayas: Leider ja. Akte des Sadismus, der Folter und des Verbrechens
sind seitens der Amerikaner, Briten, Franzosen und natürlich
auch Sowjets oft genug vorgekommen. Ich habe beispielweise die Akten
der Rechtsabteilung der US-amerikanischen Armee durchgearbeitet
und bin dabei auf eine Reihe von Erschießungen und Mißhandlungen
deutscher Kriegsgefangener durch US-Armeeangehörige gestoßen.
Darüber hinaus finden sich in den Akten der Wehrmacht-Untersuchungsstelle
für Verletzungen des Völkerrechts weitere Belege.
DMZ: Können Sie hierzu ein Beispiel nennen?
De Zayas: Da gibt es den Fall des amerikanischen Leutnants Vincent
Acunto, der 23 deutsche Kriegsgefangene im April 1945 in Tambach
bei Coburg erschießen ließ. Es kam zu einem Prozeß
gegen ihn. Seine einzige Verteidigung war, daß er keine Ahnung
von der Haager Landkriegsordnung und der Genfer Konvention gehabt
habe und auch nicht gewußt habe, daß er Kriegsgefangene
nicht einfach erschießen lassen dürfe – er wurde
freigesprochen. Es gab noch im Nachhinein eine ganze Reihe von Untersuchungen
dieses Falls. Alle hatten dasselbe Ergebnis. Aber selbstverständlich
war Leutnant Acunto schuldig und hätte verurteilt werden müssen.
Es gibt auch prominente Beispiele, wie den US-Literaten Ernest
Hemingway. In einem veröffentlichten Briefwechsel mit seinem
Verleger Charles Scribner berichtet Hemingway, wie er als Interrogations-Offizier
bei einer Vernehmung eines deutschen Waffen-SS-Angehörigen
beteiligt war. Der Deutsche wurde mit Fragen konfrontiert, die nach
der Genfer Konvention nicht zulässig waren. Nachdem der Deutsche
sich weigerte zu kooperieren, wurde er dreimal in den Bauch geschossen
und danach mit einem Kopfschuß getötet. Hemingway beschreibt
diesen Mord in dem Brief an Scribner als etwas vollkommen Legitimes.
Es ist erstaunlich, selbst als dieser Briefwechsel mit dem Mordgeständnis
veröffentlicht wurde, nahm niemand Anstoß daran.
DMZ: Läßt sich vor einem solchen Hintergrund auch die
Gleichgültigkeit angesichts aktueller Kriegsverbrechen erklären?
De Zayas: Ja, es besteht eine Bereitschaft, nur die Verbrechen
des Anderen anzuklagen und die eigenen Verbrechen zu ignorieren
oder gar zu rechtfertigen. Hemingway wurde niemals wegen Mordes
belangt. Er erfuhr deswegen nicht einmal eine soziale Ächtung.
Kritik gab es von niemandem aus seinem Umfeld. Die Tatsache, daß
er ein Mörder war, hat ihm nicht geschadet. Man hat damit vollkommen
akzeptiert, daß man seinen Feind auch ermorden darf.
Heute ist das ganz ähnlich. Jemand, der wie der ehemalige stellvertretende
US-Verteidigungsminister Paul Wolfowitz durch Lügen und Manipulation
einen illegalen Angriffskrieg plant, wird heute nicht nur nicht
strafrechtlich belangt, sondern er wird jetzt sogar Weltbankpräsident.
Man sieht hier keine Doppelmoral mehr, sondern die Abwesenheit jedweder
Moral. Die USA sind ist ein Land geworden, das seine Werte anscheinend
verloren hat. Selbst der Begriff der Menschenrechte wird heute nur
noch dazu instrumentalisiert, Macht auszuüben. Die Maxime der
US-amerikanischen Politik war damals und heute: Macht ist Recht.
Ich lege Wert darauf zu erklären, daß ich mich als amerikanischen
Patrioten verstehe und kein Nestbeschmutzer bin. Ein Patriot will,
daß sich sein Land ehrenhaft und gerecht verhält. Ist
das nicht der Fall, muß der Patriot protestieren, in der Hoffnung,
sein Land wieder auf den Weg der Menschenrechte und der Gerechtigkeit
zu bringen.
DMZ: Herr Professor de Zayas, vielen Dank für das Gespräch.
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