Publications
Ex Tempore
pen club
Photos
Links
Guestbook
English Spanish Franch German
Si vis pacem, cole justitiam !
 
Home / Books / Lectures - 60 Jahre Vertreibung


 

 

60 Jahre Vertreibung – Düsseldorf, 19. März 2005

 

Prof. Dr.iur. et phil. Alfred de Zayas, Genf

Sehr geehrter Herr Parplies, Herr Dr. Rüttgers! 

Meine sehr verehrten Damen, meine Herren !

 

60 Jahre Vertreibung bedeutet drei Generationen Vertriebener, ihrer Kinder und Enkelkinder. Eine Zeit des Leidens, des Todes, der Integration, des Wiederaufbaus, des demokratischen Parlamentarismus. Eine Zeit aber auch der Trauer, des Verdrängens, des Schweigens, der beständigen Heimatliebe, der Hoffnung auf Rückkehr und dem Glauben an das Recht. Diese Zeit wurde durch die mutigen Worte der Charta der Heimatvertriebenen, durch den wiederholten Anspruch der Vertriebenen auf das Recht auf die Heimat und durch die friedliche Leistung der Vertriebenen geprägt.

Der Beitrag der Vertriebenen zum heutigen Deutschland ist bekannt. Und dennoch haben sich die deutschen Politiker, die Medien und die deutsche Historikerzunft verhältnismäßig wenig mit der Vertreibung auseinandergesetzt. Lange war die Thematik ein „Stiefkind der Zeitgeschichtsschreibung“ (Herbert Ammon, 1996).

Heute erscheinen zahlreiche Bücher über die Vertreibung und Fernsehsendungen werden ausgestrahlt. Somit hat die notwendige Aufarbeitung der Katastrophe der Vertreibung begonnen, allerdings nicht immer in intellektueller und wissenschaftlicher Redlichkeit, nicht immer mit Ehrfurcht und Respekt vor den Opfern und somit nicht immer in Achtung der Menschenwürde.

Bald wird die literarische Aufarbeitung erblühen. Immerhin erfreuen wir uns über die Bücher von Agnes Miegel, Siegfried Lenz oder Arno Surminski. Viele erfreuen sich über die Romane des Literatur Nobelpreisträgers Günther Grass. Eigentlich gefallen sie mir etwas weniger – und seine Novelle „Im Krebsgang“ schon gar nicht. Nun warte ich auf den Tag, an dem der wirklich große Roman über die Vertreibung geschrieben wird und hoffentlich auch einen Verleger findet – ein deutsches „Vom Winde verweht“.

Wie Sie wissen, habe ich mich mit der Frage der Vertreibung der Deutschen seit Jahrzehnten beschäftigt, und zwar seitdem ich erst darüber erfuhr an der Harvard Law School im Jahre 1970, und seitdem ich mit einem Fulbright-Stipendium vor 30 Jahren nach Deutschland kam.

Lassen Sie mich etwas ganz am Anfang dieses Vortrages sagen, und zwar als Nicht-Deutscher und in meiner Eigenschaft als Historiker und Völkerrechtler: Erlauben Sie mir, dass ich die Vertreibung aus der Warte meiner 22-jährïgen Tätigkeit als Völkerrechtler im Zentrum für Menschenrechte der Vereinten Nationen beurteile, als ehemaliger Sekretär des UNO-Menschenrechtsausschusses und als ehemaliger Chef der Petitionsabteilung im Büro des Hochkommissars für Menschenrechte:

Ohne Zweifel, ich wiederhole, ohne Zweifel war die Vertreibung der Deutschen völkerrechtswidrig. Darüber hinaus war sie ein Verbrechen gegen die Menschheit.

Der englische Begriff „ crime against humanity “ wird insofern falsch übertragen, wenn er nur als Verbrechen gegen die Menschlichkeit übersetzt wird.. Denn die eigentliche Bedeutung in Englisch geht viel tiefer – wir meinen ein Verbrechen gegen alle Menschen, gegen Mankind als solches, und nicht etwa ein Vergehen des Mangels an Menschlichkeit.

Der Begriff „Verbrechen gegen die Menschheit“ wurde bereits im Ersten Weltkrieg geprägt, und zwar von den Engländern in einer offiziellen Note vom 28. Mai 1915 an den Türkischen Sultan. Dort werden die Massaker an den Armeniern als „ crimes against humanity and civilization “ bezeichnet. Das Wort Genozid existierte noch nicht. Es wurde erst 1944 vom polnischen Juristen Raphael Lemkin erschaffen und in die Nürnberger Anklageschrift und in das Nürnberger Urteil aufgenommen. Erst drei Jahre später wurde die Konvention gegen den Völkermord von den Vereinten Nationen verabschiedet. Somit sind die Begriffe Verbrechen gegen die Menschheit und Völkermord besondere völkerrechtliche Begriffe geworden, und diese müssen auch konsequent angewandt werden, wenn die Tatbestände des Verbrechens vorliegen, wie leider auch im Falle der Vertreibung der Deutschen.

Wenn wir über die Vertreibung von 15 Millionen Deutschen reden, von denen mehr als 2 Millionen die unsäglichen Leiden nicht überlebten, geht es um ein Verbrechen, das viel größer war als die ethnischen Säuberungen, die 1991-95 und abermals 1998/99 im ehemaligen Jugoslawien stattfanden, und die von der ganzen Welt verurteilt wurden.

Heute gedenken wir Millionen unschuldiger Menschen, die Ihr Leben auf der Flucht und bei der Vertreibung verloren haben, wir gedenken auch der Menschen, die Ihre Heimat und ihre Seele zurückließen. Denn es geht auch um die menschliche Tragödie der gewaltsamen Trennung von der angestammten Heimat.

Vor zehn Jahren hörten die Vertriebenen in der Paulskirche zu Frankfurt am Main anläßlich der Gedenkstunde „50 Jahre Vertreibung“ jene Grußbotschaft des ersten UNO-Hochkommissars für Menschenrechte, Jose Ayala Lasso:

Er sagte:

„Das Recht, aus der angestammten Heimat nicht vertrieben zu werden, ist ein fundamentales Menschenrecht“

Und in der Tat ist das Recht auf die Heimat eines der wichtigsten individuellen und kollektiven Rechte, ein Recht, daß den Genuß von vielen anderen Menschenrechten erst ermöglicht. Ein Recht, dessen Verletzung ein Verbrechen darstellt, ein Recht, das wesentlicher ist als das Selbstbestimmungsrecht der Völker, denn wie könnte das Selbstbestimmungsrecht ausgeübt werden, wenn ein Volk jederzeit vertrieben werden kann?

Tatsächlich ist der jetzige Haager Strafprozeß gegen Slobodan Milosevic ein Prozess wegen der Verletzung des Heimatrechtes der Bosnier und der Kosovaren. Wenn dort ein Verbrechen, umso mehr im Fall der objektiv brutaleren Vertreibung der Deutschen.

Wenn wir jetzt „60 Jahre Vertreibung“ gedenken, gedenken wir der deutschen Frauen, Kinder, Greise und Männer, die zur Flucht gezwungen wurden und dann terrorisiert und ausgeraubt und aus ihrer zum Teil 700-jährigen Heimat vertrieben wurden.

Für die Vertreibung gab es und gibt es absolut keine historische oder moralische Rechtfertigung. Es war keine Strafe für Hitler, denn die polnischen und tschechischen territorialen Ansprüchen und Vertreibungsprojekte existierten nachweislich schon seit dem Ersten Weltkrieg. Es war Landraub im großen Stil. Der Zweite Weltkrieg war keinesfalls die Ursache der Vertreibung -- sondern nur der unmittelbare Anlass. Es wirkte das Vae Victis , das „Wehe den Besiegten“, wie Livius bereits vor 2000 Jahren schrieb – geprägt durch heute unvorstellbare Grausamkeit und durch heute durchaus vorstellbare Hybris und Machtfülle der Sieger, wie wir sie in der heutigen Weltsituation auch beobachten können.

Hier muss ich ganz entschieden die menschenverachtende Aufteilung der Welt nach einer primitiven Schablone von Tätern und Opfern ablehnen. Diese Aufteilung hat nichts mit Geschichte oder Völkerrecht zu tun. Nichts mit Wissenschaft, Realpolitik oder Sinn für die politischen Realitäten. Diese Aufteilung ist schlichtweg eine Verlogenheit und eine Obszönität, denn eine Kollektivschuld hat es nie gegeben. Schuld und Unschuld sind individuell, nicht kollektiv. Kein Staat außer Deutschland hat sich nach 1945 so gewissenhaft der schmerzhaften und undankbaren Aufgabe unterworfen, individuelle Schuld eigener Bürger zu verfolgen und zu bestrafen und im Rahmen des Möglichen – teilweise darüber hinaus – Wiedergutmachung zu leisten.

Der erste UNO-Hochkommissar Ayala Lasso hat öfters daran erinnert, daß alle Opfer dieselbe menschliche Würde haben. Es gibt keine und es darf auch keine politisch korrekten und politisch inkorrekten Opfer geben. Es gibt nur Menschen, die leiden und die gelitten haben. Alle Opfer haben einen Anspruch auf menschliches Mitgefühl, auf Respekt und auch auf Wiedergutmachung.

Die Vertreibung geht uns alle an -- Ob direkt Betroffener, Kinder und Enkel von Vertriebenen, ob Deutscher oder Nicht-Deutscher.

Wir reden von einer Flucht von Millionen friedlichen Menschen aus Ostpreußen, Pommern, Ostbrandenburg, Schlesien – um noch Schlimmerem zu entkommen. Vom Bundesarchiv wird – konservativ - geschätzt, dass 600,000 Deutsche auf Grund direkter Gewaltanwendung – Mord, Totschlag, Folter - ihr Leben verloren haben. Weitere 1.5 Millionen verloren ihr Leben im Laufe der Flucht und als Konsequenz der Vertreibung durch Erschöpfung, Hunger, Seuchen und Überarbeitung in zahllosen Zwansarbeitslagern zwischen Oberschlesien und Sibirien. Millionen Frauen und sogar Kinder wurden vergewaltigt.

Wir reden über massive Verbrechen im Krieg, über groteske Verbrechen nach dem Kriege, also Verbrechen in sogenannten Friedenszeiten -- denn viele der Vertreibungsverbrechen sind lange nach der deutschen Kapitulation geschehen. Dabei weise ich auf die Ambivalenz des Begriffes „Vertreibungsverbrechen“ ausdrücklich hin: Wenn wir die Vertreibung selber als Verbrechen verurteilen, kann es in diesem Mega-Verbrechen nicht noch lauter „kleine“ Verbrechen geben; ich rege an, für die zahllosen mörderischen Übergriffe auf die Zivilbevölkerung den Begriff Vertreibungsexzesse zu verwenden. Es ist eben unmöglich, die Massenausweisung von Millionen Menschen „in geordneter und humaner“ Weise durchzuführen, wie es im August 1945 in Potsdam hieß. Wer ein solches Mega-Verbrechen beschließt, programmiert Exzesse!

Wir reden über Landraub größten Ausmaßes, über Raub von Privateigentum. Wir reden über die verbrecherischen Benes Dekrete 12, 33, 108, um nur einige zu nennen.. Über die Amnestien für die polnischen und tschechischen Täter, über die Straffreiheit der Mörder und Plünderer.

Straffreiheit

Hören wir noch einmal, was Alexander Solzhenitzy, 1945 Soldat der Roten Armee in Ostpreußen, im seinem Buch „Archipel GULag“ beschrieb:

„Ja! Nach drei Wochen Krieg in Deutschland wussten wir Bescheid. Wären die Menschen Deutsche gewesen – jeder hätte sie vergewaltigen, danach erschießen dürfen, und es hätte fast als kriegerische Tat gegolten ...“

Er beschrieb noch schlimmeres in seinem Gedicht „ Preußische Nächte “:

„Was Jahrhunderte geschaffen,

brennt hier nieder, sinkt zu Schutt

Flammen plätschern, Flammen peitschen

über meinen Kopf hinweg.

 

Neidenburg: verglühend bricht hier

altes gutes Mauerwerk.

Überstürzt ward's aufgegeben

rasch besetzt im Plünderwahn...

 

Zweiundzwanzig Höringstrasse

Noch kein Brand, doch wüst, geplündert

Durch die Wand gedämpft – ein Stöhnen:

Lebend finde ich noch die Mutter.

Waren's viel auf der Matratze ?

Kompanie? ein Zug? – was macht es!“

 

Auch Lew Kopelew schrieb über die Morde an Zivilisten. Und viele belgische und französische Kriegsgefangene in Ostpreußen, die vor und nach ihrer Befreiung die sowjetischen Morde an deutsche Zivilpersonen sahen. Ich habe viele der ehemaligen Kriegsgefangenen für mein Buch „ Die Anglo-Amerikaner und die Vertreibung “ interviewt. Anfang dieser Woche habe ich zwei dieser belgischen Freunde in Brüssel besucht.

Ich habe auch Botschafter George Kennan in Princeton interviewt, der vor zwei Tagen im alter von 101 Jahren in Princeton verstorben ist. Kennan bemerkte in seinen Memoiren:

„Die Katastrophe, die über dies Gebiet mit dem Einzug der sowjetischen Truppen hereinbrach, hat in der modernen europäischen Geschichte keine Parallele. Es gab weite Landstriche, in denen wie aus den Unterlagen ersichtlich, nach dem ersten Durchzug der Sowjets von der einheimischen Bevölkerung kaum noch ein Mensch – Mann, Frau oder Kind – am Leben war, und es ist einfach nicht glaubhaft, daß sie allesamt in den Westen entkommen wären.“

Dasselbe in Pommern, in Ostbrandenburg, in Schlesien. Und dann kamen die Flüchtlinge in die ausgebombten deutschen Städten und wurden noch einmal dem Luftterror ausgeliefert. Es wird geschätzt, daß etwa 600,000 deutsche Zivilpersonen dem Flächenbombardierung deutscher Städten zum Opfer fielen. Angriffe, die keinen militärischen Ziele galten – sondern nur die Moral der Zivilbevölkerung.

Wie viele Schlesier sind in Dresden zu Tode verbrannt oder erstickt ? Ich selber denke, daß die Zahl wohl über 100,000 lag. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz hatte 1946 sogar 275,000 geschätzt.

Heute beobachte ich mit trauriger Verwunderung, wie ohne wissenschaftliche Methodik diese Zahl von Politikern und von der Presse heruntergedrückt wird. Zu welchem Zweck? Darf ich fragen. Ist nicht der Tod von 35,000 unschuldigen Zivilisten grotesk genug?

Heute, 60 Jahre danach, wissen wir, daß keiner der Mörder jemals zu Verantwortung gezogen wurde. Nicht Bomber-Harris, nicht Eduard Benes, nicht Wladislav Gomulka. Und manche naive Geister fragen, ob es sich tatsächlich um Verbrechen handelte, denn nach dem menschlichen Verlangen und Sinn für Gerechtigkeit müssten solche Massenverbrechen bestraft werden. Und dennoch wurde keiner von jenen bestraft.

Ist es aber viel anders in unseren Tagen ? Pol Pot, der Chef der Roten Khmer und Architekt des Massenmordes in Kambodscha – der seltene und völlig perverse Versuch eines Auto-Genozids, eines Völker-Selbstmords - ist nie bestraft worden – er starb im Bett. Bedeutet dies, daß alles, war er tat, völkerrechtsgemäß war? Daß Pol Pot kein Verbrecher war, allein weil kein Internationales Militärtribunal ihn jemals verurteilte ?

Idi Amin Dada, der selbsternannte „Feldmarschall“ und blutige Diktator Ugandas, ist ebenfalls im Bett gestorben. Auch in völliger Straffreiheit.

Meine Damen und Herren,

wir müssen uns daran gewöhnen, daß völkerrechtliche Normen mit ihre Umsetzung nicht identisch sind, daß es Normen gibt, die unbestraft mißachtet werden.

Pot Pot war ein Massenmörder, auch wenn er nie bestraft wurde. Benes war ein Massenmörder, auch wenn man heute (!)Straßen und Brücken nach ihm benennt.

Allerdings ist es die Aufgabe der Historiker, der weltöffentlicher Meinung, des Weltgerichtes, über diese Sachen zu sprechen und die richtigen Konsequenzen zu ziehen.

Die intellektuelle Unredlichkeit der Historiker und Journalisten ist atemberaubend – damals wie heute – in Deutschland wie auch in Amerika.

Wenn man die Vertreibung verstehen will, kann man nicht mit „1933“ oder mit „1939“ anfangen. Man muß mit den ungerechten Verträgen von Versailles, St. Germain und Trianon anfangen. Schließlich war der Zweite Weltkrieg seit Versailles programmiert. Er war die Fortsetzung des „30-jährigen Krieges“ des 20. Jahrhunderts.

Wenn Historiker und Politiker den Krieg und die Vertreibung in richtiger Perspektive sehen wollen, so müssen sie sich auch mit den Feststellungen des Völkerbundes und des Ständigen Internationalen Gerichtshofes in den Haag beschäftigen. Diese haben wiederholte Male die Diskriminierung und Terrorisierung der deutschen Volksgruppen in Polen und in der Tschechoslowakei verurteilt. Tausende von Petitionen der deutschen Volksgruppen sind in Genf im Völkerbundsarchiv aktenkundig. Ich habe diese Akten für mein Buch „Die Anglo-Amerikaner und die Vertreibung der Deutschen“ und für meine völkerrechtliche Schriften zum Minderheitenrecht herangezogen. Aber kaum jemand will sie konsultieren.

In der Diskussion über die Vertreibung hören wir Lippenbekenntnisse zu den Menschenrechten. Man hört sie in Genf in der Menschenrechtskommission, man hört sie auch in Brüssel bei der Europäischen Union, wo neulich Polen und Tschechien ohne Konditionen aufgenommen wurden, ohne daß sie die Kopenhagener Kriterien (1993) erfüllt hätten. Jetzt sind sie beide Mitglieder der Europäischen Union, und in ihrem Gepäck kamen auch die Bejahung der Vertreibung und der Benes Dekrete in die EU.

60 Jahre Vertreibung heißt auch 60 Jahre Potsdamer Konferenz. Wie Sie wissen, ist daraus noch kein Friedensvertrag entstanden. Doch entfaltet das Potsdamer Protokoll noch heute böse Konsequenzen. Es wird auch politisch mißbraucht, vor allem von polnischen und tschechischen Geschichtsklitterern, die Artikel XIII des Protokolls als eine alliierte Anordnung zur Vertreibung interpretieren wollen.

Die Geschichte sieht aber anders aus. Denn die ethnische Säuberung der deutschen Volksgruppe in Polen und die Vertreibung der reichsdeutschen Bevölkerung aus Ostpreußen, Danzig, Pommern, Ostbrandenburg, Schlesien lief schon seit dem Frühjahr 1945, viele Monate vor der Potsdamer Konferenz.

Die Vertreibung der Sudetendeutschen fing schon im Mai 1945 an. Wir erinnern uns an den Brünner Todesmarsch vom 30. Mai 1945, mehr als sechs Wochen vor Beginn der Potsdamer Konferenz und zwei Monate vor der Verkündung des Artikel XIII des Potsdamer Protokolls vom 2. August 1945.

Artikel XIII wird von polnischen und tschechischen Geschichtsklitterern als Quasi- Legalisierung der Vertreibung genannt, aber jeder, der die Dokumente kennt, die ich in meinem Buch „ Die Anglo-Amerikaner und die Vertreibung “ bereits vor 28 Jahren veröffentlicht habe, kann solchen Unsinn nicht mehr behaupten. Nicht nur sprach ich mit mehreren Teilnehmer an der Potsdamer Konferenz, ich habe den eigentlich Verfasser des Artikels XIII zweimal interviewt und habe noch mit ihm korrespondiert, Sir Geoffrey Harrison. Bereits in seinen seinerzeitigen Memoranden hat er das Entstehen des Artikels erklärt. In Interviews mit mir hat er mir Einblick in die Details eröffnet.

Artikel XIII bezweckte zunächst ein Moratorium der laufenden katastrophalen wilden Vertreibungen. Nur dann dürfte ein geordneter Transfer folgen. Über Anzahl und Zeitpunkt des Transfers sollte der Kontrollrat im Berlin beraten und bestimmen. Aber es wurden von den Vertreibern ständig vollendete Tatsachen geschaffen.

Es war keinesfalls sicher, wie viele Deutsche umgesiedelt werden sollten, und die neuen Grenzen waren keinesfalls bestimmt. So schrieb der amerikanische Aussenminister James F. Byrnes am 19. Oktober 1945 an seine Botschaftern in Prag und Warschau:

„Wir sahen ein, dass gewisse Aussiedlungen unvermeidlich waren, aber wir beabsichtigten in Potsdam nicht, zu Aussiedlungen anzuregen, oder in Fällen, wo andere Regelungen praktikabel waren, Verpflichtungen einzugehen.“

Ich erinnere ferner an das Telegramm von General Eisenhower vom 18. Oktober 1945 nach Washington

„In Schlesien verursachen die polnische Verwaltung und ihre Methoden eine große Flucht der deutschen Bevölkerung nach dem Westen ... Viele, die nicht weg können, werden in Lagern interniert, wo unzureichende Rationen und schlechte Hygiene herrschen. Tod und Krankheit in diesen Lagern sind extrem hoch... Die von den Polen angewandten Methoden entsprechen ganz gewiss nicht den Potsdamer Vereinbarungen ... Die Todesrate in Breslau hat sich verzehnfacht, und es wird vor einer Säuglingssterblichkeit von 75 Prozent berichtet....“

Was die Methode der Vertreibung betrifft, stellte der britische Publizist und Verleger Viktor Gollancz fest:

„Sofern das Gewissen der Menschheit jemals wieder empfindlich werden sollte, werden diese Vertreibungen als die unsterbliche Schande aller derer in Gedächtnis bleiben, die sie veranlaßt oder sich damit abgefunden haben ... Die Deutschen wurden vertrieben, aber nicht einfach mit einem Mangel an übertriebener Rücksichtnahme, sondern mit dem denkbar höchsten Maß von Brutalität“

Diese Brutalität wird in 40,000 Erlebnisberichten im Bundesarchiv ausreichend belegt. Darum ist es besorgniserregend, wenn Journalisten, Historiker und Politiker in Tschechien , in Polen und die Vertreibung ständig bagatellisieren und relativieren. Für mich als Nicht-Deutscher ist es aber nicht nachzuvollziehen, weshalb deutsche Journalisten, Historiker und Politiker ebenfalls die Vertreibung bagatellisieren und relativieren.

Entscheidend ist, daß wir anerkennen, daß kein Verbrechen ein anderes rechtfertigt, daß kein unschuldiger Mensch für die Verbrechen von anderen Menschen zu leiden hat, und daß alle Opfer die gleiche Menschenwürde besitzen. 

Die Vertreibung der Deutschen ist nicht nur eine historische Angelegenheit, sie ist auch eine Frage der Menschenrechte. Wie Ayala Lasso vor 10 Jahren in der Paulskirche feststellte:

„Ich bin der Auffassung, daß, hätten die Staaten seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges mehr über die Implikationen der Flucht, der Vertreibung und der Umsiedlung der Deutschen, nachgedacht, die heutigen demographischen Katastrophen, die vor allem als ethnische Säuberungen bezeichnet werden, vielleicht nicht in dem Ausmaß vorgekommen wären.“

Das Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin hat die noble Aufgabe, für die weltweite Ächtung von Vertreibungen und für die Anerkennung des Rechtes auf die Heimat zu wirken. Als Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Stiftung werde ich mein bestes tun, um für eine angemessene historische Würdigung der Vertreibung etwas zu tun.

Die Thematik ist wohl kein Tabu mehr. Wir müssen aber dafür sorgen, dass die Diskussion nicht von einem verkrampften Zeitgeist geleitet wird, sondern von einem echten Interesse an Wahrheit – denn Wahrheit ist auch ein Menschenrecht. Keine Themenkomplexe dürfen ausgeklammert werden. Sie und Ihre Kinder und Enkel haben ein Recht, die ganze Wahrheit zu wissen. Diese Wahrheit gehört in die Medien, in die Gymnasien, in die Universitäten und auch in die Parlamente der betroffenen Ländern.

Eine Diskussion in Deutschland tut Not – so wie auch eine Diskussion in den USA, in Großbritannien, in Russland, in Polen, in Tschechien.

Alle wollen Verständigung – aber keine leeren Geste, und sicher keinen Versöhnungskitsch. Alle wollen echte Verständigung auf der Basis der Menschenrechte, der historischen Wahrheit und der Aufrichtigkeit.

In diesem Sinne müssen wir wirken

Als Ovidius es sagte: „Steter Tropfen höhlt den Stein.“

Gutta cavat lapidem.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

Copyright ©2004 Alfred De Zayas. All contents are copyrighted and may not be used without the author's permission. This page was created by Nick Ionascu.