Nürnberg, 3.
Juli 2005
Alfred de Zayas – Die Vertreibung der Deutschen
Völkerrechtswidrig damals wie heute
Heimatrecht als fundamentales Menschenrecht
Sehr geehrter Herr Visitator Dr. Grochholl, Herr
Dr. Beckstein, Herr Pawelka, Herr Professor Pietsch, lieber Herr
Dr. Hupka,
Meine sehr verehrten Damen, meine Herren!
Vor sechzig Jahren am 6. Juni 1945, legte der amerikanische
Oberste Richter Robert Jackson dem amerikanischen Präsidenten
Harry Truman einen Bericht vor, einen Plan für das Internationale
Militärtribunal, das Politiker und Militärs des deutschen
Reiches juristisch zur Verantwortung ziehen sollte. Am Dienstag
den 20. November 1945 begann hier in Nürnberg der bekannteste
Strafprozeß der Geschichte: Der Prozeß gegen Hermann
Wilhelm Göring und 21 andere Größen des besiegten
Reiches. Das Internationale Militärtribunal erhob Anklage gegen
sie u.a. wegen Vertreibung und Verschleppung.
Ja, meine Damen und Herren, im Statut des Tribunals
wurden der Tatbestand der Deportation von Menschen aus ihrer Heimat
und der Tatbestand der Verschleppung zu Zwangsarbeit als Kriegsverbrechen
gemäß Artikel 6(b) des Statuts und als Verbrechen gegen
die Menschheit („Crime against humanity“, oft fälschlich
und bagatellisierend als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“
übersetzt, als ob sich lediglich um Mangel an Menschenliebe
handelte!) gemäß Artikel 6(c) des Statuts definiert.
Das Nürnberger Urteil wurde am 1. Oktober 1946 verkündet.
18 der Angeklagte wurden für schuldig befunden, verschiedene
Verbrechen begangen zu haben, ausdrücklich auch die Verbrechen
der Deportation und der Verschleppung. Sie wurden zum Tode oder
zu längeren Freiheitsstrafen verurteilt. Acht unter ihnen wurden
am 16. Oktober 1946 hingerichtet, die übrigen mussten Jahrzehntelang
nach Spandau.
Von welcher Vertreibung und Verschleppung war im
Nürnberger Prozeß die Rede? Von der Vertreibung von mehreren
Hunderttausend Polen aus Westpreußen und dem Warthegau ins
Generalgouvernement Polen und von etwa 100,000 Franzosen aus dem
Elsass ins Vichy-Frankreich. Welche Verschleppung wurde verurteilt?
Die Deportation vornehmlich osteuropäischer Zivilisten zur
Zwangsarbeit in das Deutsche Reich.
Einige Beobachter wie Robert Murphy, der politischer Berater von
Eisenhower, der englische Philosoph Bertrand Russell, und Victor
Gollancz, der berühmte Verleger, haben schon damals festgestellt,
daß die Vertreibung und Verschleppung der Deutschen auch schwierige
juristische und moralische Fragen aufwarfen, und daß eine
gefährliche Doppelmoral am Spiele war, denn zur gleichen Zeit
als die Siegermächte die NS-Grossen verurteilten, vertrieben
die Polen und Tschechen Millionen Deutsche aus ihrer Heimat, während
etwa eine Million zur Sklavenarbeit in die Ural-Gruben, und nach
Sibirien verschleppt wurde. Bekanntlich sind zwei Millionen Deutsche
durch diese Strapazen umgekommen, mindestens 400.000 davon durch
unmittelbare Gewalt, durch Mord und Totschlag und infolge unzähliger
Massenvergewaltigungen vor allem durch Rotarmisten.
Es war ein merkwürdiger Anblick, bei den bizarren
Moskauer Veranstaltungen am 9. Mai dieses Jahres einen deutschen
Bundeskanzler dort zu sehen - freudig beobachtend die Parade der
uniformierten Kämpfer – unter ihnen wohl auch Vergewaltiger
Mörder und Vertreiber von damals und ihren Nachfolgern in „Traditionsuniformen“
– die sich seit zehn Jahren in Tschetschenien als „würdige“
Nachfolger ihrer Großväter erweisen. As Amerikaner habe
ich das nicht zu kritisieren, aber befremdlich und unverständlich
fand ich es schon.
Ohne Zweifel handelt es sich bei der Vertreibung
und Verschleppung der Deutschen um ein Verbrechen gegen die Menschheit.
Einige amerikanische Parlamentarier wie Caroll Reece und William
Langer haben die Vertreibung der Deutschen als Völkermord verstanden.
Nach der seit 1907 und somit auch im Zweiten Weltkrieg
geltenden Haager Landkriegsordnung stellten die Vertreibungen und
Verschleppungen Kriegsverbrechen dar, sofern sie in Kriegszeit erfolgten,
d.h. noch vor der Kapitulation der deutschen Wehrmacht.
Wie wir alle wissen, wurde kein Mensch wegen der
Vertreibung und Verschleppung der Deutschen oder der unzähligen
dabei begangenen Gewalttaten bestraft. Stattdessen wurden in den
Vertreiberstaaten Straffreiheits- und Amnestiegesetze erlassen.
Am 10.Dezember 1948 verkündete die Generalversammlung
der Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte.
Artikel 1 bestimmt:
„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde
und Rechten geboren.“
Dieses Prinzip der Gleichheit wurde in der Europäischen
Menschenrechtskonvention (1950) und im UNO-Pakt über Bürgerliche
und Politische Rechte (1966) verankert. Die Gleichheit an Würde
schließt auch die Gleichheit der Opfer ein. Es darf keine
priviligierten Opfer geben, keine politisch korrekten Opfer neben
solchen, die wir einfach vergessen können.
Freilich – die deutschen Vertriebenen und
Verschleppten sowie ihre Nachkommen werden kaum zur Kenntnis genommen.
Ihnen wird den Opferstatus verweigert, denn irgendwie sollen sie
als Täter, nicht als Opfer gesehen werden. Hinter einer solchen
Haltung steht pure Menschenverachtung.
Warum sollten die deutschen Vertriebenen und Verschleppten
immer noch entrechtet bleiben? Im Völkerrecht besitzen sie
z.B. das allgemeine Rückkehrrecht. Aber sie haben es nicht
ausüben können. Sie haben keine Restitution des beschlagnahmtes
Privateigentums erhalten. Sie haben keine Entschädigung für
die Ermordung ihrer Angehörigen. Sie erfahren nicht einmal
Mitgefühl.
Schlimmer noch, die deutschen Vertriebenen werden
nach wie vor diffamiert. Denn die Vertreiberstaaten versuchen mehr
denn je, die Vertreibung zu rechtfertigen, und dabei führen
sie die alten anti-deutschen Schablonen ins Feld. Wir wissen, dass
eine Mehrheit der Bevölkerung in Polen und Tschechien meint,
dass die Vertreibung der Deutschen rechtens war. Z.B. nach der jüngst
veröffentlichten Umfragen in der Zeitung Prager Post vom 16
Juni 2005 meinen 64 Prozent der Tschechen, dass die Benes Dekrete
gut waren und auch weiterhin Gültigkeit beibehalten sollen
– dies Ergebnis ist noch höher als im Jahr 1994, als
sich 57 Prozent der Tschechen für die Beibehaltung der Benes
Dekrete ausdruckten.
Diese Situation stellt ein wahrhaftiges Menschenrechtsproblem
dar.
Denn es geht um die unmenschliche, unchristliche,
ungöttliche These der Kollektivschuld. Alle Deutschen werden
zu Täter erklärt, Täter. die nicht gleichzeitig Opfer
sein können
Als amerikanischer Beobachter der deutschen Szene
stelle ich fest, daß in dieser Frage sich viele Deutsche –
Gott sei Dank nicht alle -- in den Medien, in der Historikerzunft
und in der Politik unaufrichtig verhalten.. Ich erinnere mich, dass
in den 70er und 80er Jahren die Diskussion über die Vertreibung
meistens vermieden wurde. In den 90er Jahren wurde endlich mehr
darüber gesprochen, allerdings ohne die notwendige historische
Perspektive. Erst seit kurzem – vor allem nachdem Günther
Grass entdeckte, dass die Ertrunkenen der „Wilhlem Gustloff“
auch Opfer gewesen sein könnten, ist die Thematik gesellschaftsfähiger
geworden – in der „Zeit“, im „Spiegel“,
in der „Süddeutschen Zeitung“, in ARD und ZDF.
Wie wird die Vertreibung heute bewertet?
In der Bundesrepublik des Jahres 2005 wird von
Politikern und Journalisten die Vertreibung eigentlich hingenommen,
als wäre dieses Megaverbrechen eine logische Konsequenz des
Krieges. Deutsche Politiker und Journalisten beteiligen sich in
einem monströsen Chor der Verharmloser, der Verleugner, die
die Vertreibung relativieren, bagatellisieren, um sie schließlich
zu akzeptieren.
Es wird oft auf die Beschlüsse der Potsdamer
Konferenz hingewiesen, als ob die Vertreibung der Deutschen von
den Alliierten angeordnet worden wäre. Man hört diese
These so oft, dass viele anfangen, an sie zu glauben.
Dabei vergisst man, dass die Idee der Vertreibung
der Deutschen nachweislich mit Edvard Benes ihren Ursprung fand,
und dass die Lubliner Regierung Polens die Idee begeistert aufnahm.
Beide hatten ihre ureigenen Ambitionen und auch panslawistische
Interessen. Es war Landraub in großem Stil, die keine historische,
moralische oder juristische Berechtigung hatte.
Die Vertreibung der Deutschen war eine reine und
rücksichtlose Ausübung der Macht durch die Vertreiberstaaten,
und die Realisierung lange vor 1939 und auch vor 1933 bestehender
chauvinistischer Expansionsphantasien. Der Krieg hat die Verwirklichung
dieser mörderischen Phantasien nicht etwa verursacht, sondern
nur ermöglicht. Dies ist ein essentieller – schon logischer
– Unterschied. Die Vertreibung stellte keinesfalls die Durchführung
eines alliierten Beschlusses in Potsdam dar, sondern begann schon
viele Monate vor der Konferenz, ja war mehr als zur Hälfte
vollendete Tatsache.
Als die Potsdamer Konferenz am 17. Juli 1945 im
Schloß Cäcilienhof eröffnet wurde, waren bereits
Millionen Deutscher aus Ostpreußen, Danzig, Pommern, Ostbrandenburg,
Schlesien, Sudetenland, Ungarn, Jugoslawien usw. vertrieben worden.
Durch Mord und Vergewaltigung terrorisiert, flüchteten Millionen
Zivilisten nach Westen, um der Roten Armee zu entkommen. Sehr viele,
die in der Heimat verblieben waren, sind umgekommen.
Der Vater des Marshallplanes, Botschafter George
Kennan, den ich persönlich kannte und der vor wenigen Monaten
in Princeton gestorben ist, schrieb in seinen Memoiren:
„Die Katastrophe, die über dies Gebiet
mit dem Einzug der sowjetischen Truppen hereinbrach, hat in der
modernen europäischen Geschichte keine Parallele. Es gab weite
Landstriche, in denen... nach dem ersten Durchzug der Sowjets von
der einheimischen Bevölkerung kaum noch ein Mensch –
Mann, Frau oder Kind -- am Leben war...“
Viele Ostdeutsche, die nicht rechtzeitig fliehen
konnten, wurden zu Zwangsarbeit in der Heimat rekrutiert, in Internierungslager
gesteckt, schließlich auch durch die jugoslawischen, tschechoslowakischen
und polnischen Milizen terrorisiert, oder nach Russland verschleppt..
Nach der Kapitulation am 8. Mai 1945 versuchten
tausende Flüchtlinge in ihre Heimat zurückzukehren. Einige
konnten die Oder und Neiße nach Osten überqueren, und
gelangten wenigstens für einige Monate nach Hause. Sogar Churchill
hat in Potsdam gesagt, dass diese Menschen das Recht hätten,
zurückzukehren.
Meistens wurden sie aber an die Rückkehr gehindert
– oder schlimmer, sie wurden ermordet, wie die 267 Karpathendeutschen,
die von tschechoslowakischen Soldaten am 18. Juni 1945 beim Massaker
in Prerau an der Schwedenschanze in Mittelmähren liquidiert
wurden.
Sechs Wochen vor Beginn der Potsdamer Konferenz
wurden 27,000 Deutsche aus der mährischen Hauptstadt Brünn
zur österreichische Grenze verjagt – und zwar am 30.
Mai 1945. Wie von berichten zu lesen ist, wurden etliche unterwegs
getötet und viele kamen im Grenzgebiet um. Es handelte sich
um einen wahren Todesmarsch. Die Zahl der Todesopfer wird heute
mit etwa 5200 beziffert.
So also liefen die Vertreibungen lange vor der
Potsdamer Konferenz – auf Trecks oder auf Zügen, wo die
Vertriebenen auch noch beraubt oder vergewaltigt wurden. Sie kamen
erschöpft, krank, ausgehungert in zerbombte Städte wie
Berlin, Leipzig, Dresden, Lübeck oder Hamburg, wo kaum Unterkunft
für die Einheimischen gab – geschweige denn für
die Vertriebenen. So kamen zahlreiche von ihnen einmal im Westen
an den Folgen von Flucht und Vertreibung um.
Meine Damen und Herren, ich bin der Meinung, dass
auch diese Menschen, die erst im Westen verstarben, sehr wohl als
Vertreibungsopfer bzw. Vertreibungstote gezählt werden müssen.
Ich beobachte eine merkwürdige Tendenz, vor allem in der deutschen
Medien, die Zahl der Opfer der Vertreibung unbedingt nach unten
zu drucken. Ich halte diese Zeitgeist-Erscheinung nicht nur für
unseriös und unwissenschaftlich – ich halte sie für
menschenverachtend.
Ich habe die neuesten statistischen Untersuchungen
natürlich gelesen und bin zu dem Schluss gelangt, dass die
Feststellungen des Kirchlichen Suchdienstes in der 3-bändigen
Gesamterhebung, die Arbeiten der Heimatortskarteien, und vor allem
die des Statistischen Bundesamtes Wiesbaden für zuverlässiger
sind. Eben diese drei Quellen zwingen zu der Erkenntnis, daß
mehr als zwei Millionen Menschen an Vertreibung und Verschleppung
und ihre Folgen gestorben sind – Opfer einer völkerrechtswidrigen
Politik der Alliierten.
Nun zurück zur Potsdamer Konferenz. Wir erinnern
uns daran, dass am 31. Juli 1945, während der Konferenz noch
tagte, sich das Massaker von Aussig – heute Usti nad Labem
– ereignete, wo vielleicht mehr als Tausend Sudetendeutsche
ermordet wurden. Es existieren darüber britische und amerikanische
Berichte, die jeder in den Archiven konsultieren kann .
Im Hinblick auf diese von den Sowjets, Polen und
Tschechen verursachten Notsituation, haben die Anglo-Amerikaner
in Potsdam handeln müssen. Es ist wahr, daß die Anglo-Amerikaner
schon während des Krieges das Prinzip des sog. „Bevölkerungstransfers“
akzeptiert hatten, aber sie hatten kein eigenes Interesse daran,
wollten selber keine Vertreibungen, sondern akzeptierten die Idee
einer begrenzten und bedingten Aussiedlung, die durch eine sog.
Population Transfers Commission beaufsichtigt werden sollte, eine
Kommission, die auch für die Entschädigung für zurückgelassenes
Privateigentum sorgen sollte.
Ich habe den Verfasser des Artikels XIII des Potsdamer
Protokolls, Sir Geoffrey Harrison, in London persönlich interviewt,
und lange mit ihm korrespondiert. Ich berufe mich nun nicht auf
seine Erinnerungen sondern auf ein Schlüsseldokument aus jener
Zeit – nämlich auf den Bericht vom 1. August 1945, noch
vor Verkündung des Potsdamer Protokolls, den Harrison für
das Britische Foreign Office verfasste, wo das Entstehen des Artikels
erklärt wird:
„Das Ausschussmitglied Sobolew vertrat die
Ansicht, dass der polnische und der tschechoslowakische Wunsch,
ihre deutschen Bevölkerungen auszuweisen, einer historischen
Mission entspreche, welche die sowjetische Regierung keineswegs
zu verhindern suche.... Cannon (das amerikanische Ausschussmitglied)
und ich wandten uns nachdrücklich gegen diesen Standpunkt.
Wir erklärten, dass wir für den Gedanken an Massenausweisungen
ohnehin nichts übrig hätten. Da wir sie aber nicht verhindern
könnten, wollten wir dafür sorgen, dass sie in einer möglichst
geordneten und humanen Weise durchgeführt wurde, aber auch
auf eine Art, die den Besatzungsmächten in Deutschland keine
untragbare Belastung auferlegt.“
In diesem Sinne verstehen wir den Wortlaut des
Artikels XIII des Potsdamer Protokolls. Zunächst galt es, ein
generelles Vertreibungsmoratorium zu erklären, denn die Anglo-Amerikaner
verlangten ein Stop der Vertreibung im Sommer und Herbst 1945. Man
wollte in Ruhe überlegen, wann und wie viele Deutsche ausgesiedelt
werden konnten..
Dies erklärte auch der amerikanische Außenminister
James Byrnes den amerikanischen Botschaften in Prag und Warschau,
ich zitiere:
„Wir sahen ein, dass gewisse Aussiedlungen
unvermeidlich waren, aber wir beabsichtigten in Potsdam nicht, Aussiedlungen
anzuregen oder in Fällen, wo andere Regelungen praktikabel
waren, Verpflichtungen einzugehen.“
Leider hielten sich weder die polnischen noch die
tschechoslowakischen Regierungen an Geist oder Buchstabe dieses
Artikels – im Gegenteil, man versuchte, die Vertreibungen
so schnell wie möglich durchzuführen, um vollendete Tatsachen
zu schaffen, und auf diese Weise die deutschen Ostgebiete -- von
Deutschen ethnisch gesäubert -- rechtswidrig annektieren zu
können.
Daraufhin haben London und Washington Protestnoten
an Warschau und Prag gerichtet. Allerdings ohne Erfolg.
General Eisenhower berichtete in einem Telegramm
vom 18. Oktober 1945 nach Washington:
„In Schlesien verursachen die polnische Verwaltung
und ihre Methoden eine große Flucht der deutschen Bevölkerung
nach dem Westen ... Viele, die nicht weg können, werden in
Lagern interniert, wo unzureichende Rationen und schlechte Hygiene
herrschen. Tod und Krankheit in diesen Lagern sind extrem hoch ..
Die von den Polen angewandten Methoden entsprechen ganz gewiss nicht
der Potsdamer Vereinbarung... Die Todesrate in Breslau hat sich
verzehnfacht, und es wird von einer Säuglingssterblichkeit
von 75 Prozent berichtet. Typhus, Fleckfieber, Ruhr und Diphtherie
verbreiten sich.“
Am 25. Oktober berichtete Eisenhowers Berater Robert
Murphy nach Washington:
„Mitarbeiter, die Flüchtlingszüge
aus dem Osten ankommen sahen, stellen fest, dass sich die Leute
meistens in bedauernswertem Zustand befinden. Einige ... berichteten,
dass sie ausgeplündert und um die wenigen Habseligkeiten gebracht
wurden, die sie überhaupt mitnehmen durften. Die meisten Menschen,
die in Berlin ankamen, hatten nur wenig Handgepäck. Wenn sich
auch aus so begrenzten Beobachtungen kein endgültiges Urteil
bilden lässt, hat die Mission andererseits Beweise von unterschiedlichster
Herkunft, aus denen hervorgeht, dass schlechte Behandlung und Beraubung
weit verbreitet sind.“
Der britische Philosoph Bertrand Russell schrieb
im Oktober 1945:
„In Osteuropa werden jetzt von unseren Verbündeten
Massendeportationen in einem unerhörten Ausmaß durchgeführt,
und man hat ganz offensichtlich die Absicht, viele Millionen Deutsche
auszulöschen, nicht durch Gas, sondern dadurch, dass man ihnen
ihr Zuhaus und ihre Nahrung nimmt und sie einem langen schmerzhaften
Hungertod ausliefert. Das gilt nicht als Kriegsakt, sondern als
Teil einer bewussten „Friedenspolitik.“
Auch in diesem Sinne berichtete Robert Murphy am
12. Oktober 1945 nach Washington:
„Unser Wissen, dass sie Opfer harter politischer
Beschlüsse sind, die mit äusserster Rücksichtslosigkeit
und Missachtung der Menschlichkeit durchgeführt werden, mildert
die Wirkung nicht. Die Erinnerung an andere Massendeportationen
stellt sich ein, von denen die Welt entsetzt war und die den Nazis
den Hass eintrugen, den sie verdienten. Die Massendeportationen,
die von den Nazis inszeniert wurden, haben zu unserer moralischen
Empörung beigetragen, in der wir den Krieg wagten und die unserer
Sache Kraft verlieh. Nun ist die Sache umgekehrt. Wir finden uns
in der scheußlichen Lage, Partner in diesem Unternehmen zu
sein, und als Partner unweigerlich die Verantwortung mitzutragen....
In Potsdam kamen die drei Regierungen überein, dass die Umsiedlungen
in geregelter und humaner Weise durchgeführt und dass Polen
und die Tschechoslowakei aufgefordert werden sollten ... die Ausweisungen
von Deutschen einzustellen. ... Wenn die Vereinigten Staaten auch
vielleicht keine Mittel haben, einen grausamen, unmenschlichen und
immer noch fortgesetzten Prozess aufzuhalten, so scheint es doch,
dass unsere Regierung unsere in Potsdam klar dargelegte Einstellung
unmißverständlich wiederholen könnte und müsste.
Es wäre sehr bedauerlich, wenn es einmal heißen sollte,
daß wir an Methoden beteiligt gewesen seien, die wir bei anderen
Gelegenheiten oft verdammt haben.“
Dies erinnert uns an die Worte Robert Jacksons,
der amerikanische Hauptankläger in Nürnberg, der in seiner
Eröffnungsrede vor dem Internationalen Militärtribunal
am 21. November 1945 sagte
„Wir dürften niemals vergessen, dass
nach dem gleichen Maß, mit dem wir die Angeklagten heute messen,
auch wir morgen von der Geschichte gemessen werden.“
Die Nürnberger Angeklagten – also, die
Täter -- wurden wegen Vertreibung und Verschleppung verurteilt.
Nun waren aber die Opfer von Vertreibung und Verschleppung deutsche
Zivilisten. Also doch Opfer. Man kann vielleicht nachempfinden,
dass unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, nur wenige Menschen
Mitleid mit den Deutschen empfanden. Man kann vielleicht verstehen,
dass in den Jahrzehnten des kalten Krieges, als es in Polen und
der Tschechoslowakei zur Systemstabilisierung der verhaßten
kommunistischen Regimes notwendig war, das Feindbild Deutschland
aufrechtzuerhalten, die Vertreibung systematisch geleugnet wurde.
Als ich mein erstes Buch über die Vertreibung
im Jahre 1977 schrieb, hörte ich Kritik von polnischer und
tschechoslowakischer Seite, weil ich das Reizwort Vertreibung verwendete,
und nicht die Euphemismen Umsiedlung, Aussiedlung oder Transfer.
Inzwischen ist das Sowjetimperium zusammengebrochen.
Aber die Propagandalügen und die Täter/Opfer Schablonen
sind geblieben. Geblieben auch ist die Stalin-Grenze – jene
unselige Oder-Neiße Linie, die Stalin in Potsdam aufdrängte.
Mittlerweile hat Deutschland diese Grenze anerkannt und Nachbarschaftsverträge
mit Polen und der Tschechoslowakei geschlossen. Polen, Tschechien
und die Slowakei sind von Deutschland in die Europäischen Union
sogar willkommen geheißen geworden.
Ist das nicht grotesk, eigentlich surrealistisch
?
Wie ist es möglich oder vertretbar, dass Polen
und Tschechen die Vertreibung der Deutschen immer noch rechtfertigen
wollen und können? Wir wissen, dass die sog. ethnischen Säuberungen
im ehemaligen Jugoslawien von der gesamten Weltgemeinschaft als
Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit angesehen werden.
Slobodan Milosevic steht heute vor dem Internationalen Kriegsverbrechertribunal
in Den Haag – eben wegen seiner Vertreibungspolitik. Er wird
sogar des Völkermordes angeklagt. Aber, seien wir ehrlich,
war die Vertreibung der Deutschen nicht um vieles schlimmer als
die sog. ethnischen Säuberungen in Jugoslawien?
Ich werde Ihnen den Text der Völkermordkonvention
vom 9. Dezember 1948 nicht vorlesen. Aber es sei hier festgestellt,
daß die Vertreibung der Deutschen die Tatbestandsmerkmale
des Völkermords erfüllt, denn die Vertreiberstaaten haben
eine rassistische Politik durchgeführt, in dem sie die Zerstörung
der deutschen Volksgruppe bezweckten. Die Deutschen sollten eliminiert
werden – durch Vertreibung, durch Verschleppung, durch Zwangsarbeit,
durch Internierung, Krankheit und Hunger. Diejenigen, die der Vertreibung
irgendwie entkamen, so z.B. in Oberschlesien, da man sie für
die Kohleabbau brauchte, sie wurden assimiliert bzw. zwangspolonisiert.
Ihre Identität, ihre Kultur, ihre Seele sollten sie aufgeben
– das war der Preis des Überlebens.
Meine Damen und Herren, die Tragödie, welche
sich damals vor 60 Jahren abspielte, war zweifellos eine Form des
Völkermordes. Auch Dieter Blumenwitz und Felix Ermacora, gewiss
zwei Grosse der Völkerrechtswissenschaft, haben es bereits
vor vielen Jahren als Völkermord eingestuft.
Vertreibung und Verschleppung wurden auch im Artikel
49 der 4. Genfer Konvention von 1949 verboten, später durch
die Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen im Kodex
der internationalen Verbrechen aufgenommen, und verboten erst jüngst
in Artikel 7 und 8 des Statuts vom Rom des Internationalen Strafgerichtshofes
(ICC). Künftige Vertreibungen sind also unbedingt zu verhindern,
und Politiker, die sie betreiben, sind zu verurteilen und zu bestrafen.
Dies ist die noble Zielsetzung und Hoffnung des Zentrums gegen Vertreibungen
in Berlin, die von Erika Steinbach und Peter Glotz ins Leben gerufen
wurde. Das Zentrum will dazu beitragen, Vertreibung als Mittel der
Politik zu ächten, und das Recht auf die Heimat als fundamentales
Menschenrecht zu behaupten.
Unverständlich bleibt die intransigente Haltung
der polnischen und tschechischen Regierungen in dieser Frage. Die
deutsche Regierung ist allerdings nicht ganz schuldlos an dieser
Situation, denn, wenn ein Staat seiner Verpflichtung zum diplomatischen
Schutz der eigenen Bürger nicht nachkommt, so fühlen sich
die anderen Staaten in ihrer unmenschlichen Haltung bestätigt
und werden sogar gestärkt. Mir ist es unverständlich,
wie Polen und Tschechien in die Europäische Union aufgenommen
werden konnten, ohne mit ihrer eigenen Vergangenheit konfrontiert
worden zu sein, ohne vorher die Benes- und Bierut Dekrete abzuschaffen,
ohne Bereitschaft zur Versöhnung.
Mir ist aber noch unverständlicher, warum
die Bundesregierung nichts tut, um die Menschenrechte der Deutschen
vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und
vor dem Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen aktiv zu
unterstützen. Ein Zeichen aus Berlin würde sicherlich
in Prag bzw. in Warschau wahrgenommen. Aber es kommt kein Zeichen
aus Berlin, und so können die polnischen und tschechischen
Regierungen weiterhin die Menschenrechte von vertriebenen Deutschen
verletzen – ohne Konsequenzen fürchten zu müssen.
So z.B. hat der Menschenrechtausschuss in drei berühmten Fällen
– Des Fours Walderode, Petzoldova und Czernin, die Tschechische
Republik wegen Verletzungen der Artikel 14 und 26 des Paktes über
bürgerliche und politische Rechte verurteilt. Tschechien hat
diese Beschlüsse bisher nicht in die Tat umgesetzt. Die Bundesregierung
schweigt dazu.
Meine Damen und Herren, ich frage Sie: Was sucht
ein Staat in der Europäischen Union, der die Beshlüsse
des UNO-Menschenrechtsausschusses mißachtet? Aber vielleicht
gibt es noch Hoffnung. Wir erinnern uns an den großen Papst
Johannes Paul II, der als Bischof Karol Wojtyla von Krakau an der
gemeinsamen Erklärung der polnischen und deutschen Bischöfe
mitwirkte: „Wir vergeben und bitten um Vergebung“. Hoffnung
auch aus der tschechischen Bischofskonferenz, die anlässlich
60-Jahre Kriegsende erklärte: „Es gilt eine Versöhnung
mit unseren früheren Mitbürgern deutscher Nationalität
und ihren Nachkommen anzustreben, die nach einem ungerechten Prinzip
der Kollektivschuld vertrieben worden sind, wobei mit den Schuldigen
auch Unschuldige gelitten haben.“
Meine Damen und Herren, liebe Schlesier. Wir müssen
alle gegen dieses Prinzip der Kollektivschuld kämpfen. Wir
müssen alle für den Respekt vor den Opfern - gleich, welcher
Nationalität oder Glaubensrichtung - wirken, vor allem dafür,
dass das Leiden eines Jeden, der gelitten hat, anerkannt wird.
Nun gibt es keinen Nobelpreis für das Opfersein.
Es darf keinen Wettbewerb unter den Opfern geben ! Statt dessen
gibt es eine kollektive Sittlichkeit, die uns alle verbindet, und
die verlangt, dass wir die Menschen nicht in Opfer- und Täter-Kategorien
aufteilen. Es gab Opfer und Täter bei den Deutschen, wie es
auch Opfer und Täter bei den Polen, den Tschechen, den Franzosen,
den Briten und auch bei uns den Amerikanern gab. Uns verbindet nun
eine gemeinsame europäische Erbe, eine gemeinsame abendländliche
Geschichte, und die gemeinsame Verpflichtung, die Menschenrechten
zu achten und zu fördern.
Erlauben Sie mir, dass ich meine heutige Rede im
Geiste der deutschen Dichtung beende, Dichtung im Sinne der Heimatliebe.
„Wo gehen wir denn hin?“ fragt Novalis
– seine Antwort lautet „immer nach Hause“
Einer meiner lieblings- Dichter, Joseph von Eichendorff
hat diese Sehnsucht zur Heimat wundervoll ausgedruckt:
„Die Luft ging durch die Felder,
Die Ähren wogten sacht,
Es rauschten leis die Wälder,
So sternklar war die Nacht.
Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus.“
Ich danke Ihnen
Alfred de Zayas
Professor des Völkerrechts, DePaul University College of Law,
Chicago, University of British Columbia, Vancouver, Institut Univesitaire
de Hautes Etudes Internationales, Geneva School of Diplomacy, ehemaliger
Sekretär des UN-Menschenrechtsausschusses General-sekretär,
PEN International, Centre Suisse romande
www.alfreddezayas.com
004122 7882231
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