"Es grenzt an eine
Lüge"
© Das Ostpreussenblatt / Landsmannschaft Ostpreußen e.V.
/ 12. Januar 2002
Interview: Auch der renommierte US-Historiker Alfred de Zayas
übt harsche Kritik an der neuen Reemtsma-Ausstellung Herr Professor
de Zayas, wie erklären Sie sich die jahrelange Akzeptanz der
Reemtsma-Ausstellung in den 90er Jahren, der doch zum Beispiel
Altbundespräsident Richard von Weizsäcker frühzeitig
vorwarf, ein Pauschalurteil gefällt zu haben, das historisch,
moralisch und menschlich nicht aufrechtzuerhalten sei?
Zayas: Ich wundere mich auch, aber der Zeitgeist in Deutschland
bringt halt merkwürdige Blüten hervor. Sie werden sich
erinnern, nicht nur Richard von Weizsäcker, sondern auch Altbundes-kanzler
Helmut Schmidt war sehr kritisch, und eine ganze Reihe Wissenschaftler.
Bemerkenswert ist ja, daß seriöse Historiker die fundamentalen
methodologischen Fehler bereits im Jahre ’96 identifiziert
hatten. Ich brauche bloß auf die Bilder hinzuweisen, die vermeintliche
Opfer der Wehrmacht zeigten und in Wirklichkeit NKWD-Opfer darstellten.
Und darauf haben mehrere Historiker schon 1996 und ‘97 hingewiesen.
(...) Erst als nach über vier Jahren der polnische Historiker
Bogdan Musial und sein ungarischer Kollege Kristian Ungváry
in wissenschaftlichen Beiträgen diverse Fehler und unrichtige
Legendierungen dokumentierten, wurde diese unseriöse Tendenzschau
endlich zurückgezogen.
Wenn wir jetzt uns von der alten Wehrmachtsausstellung Nr. eins
einmal der ... neu eröffneten Wehrmachtsausstellung Nr. zwei
zuwenden: Von welchem wissenschaftlichen Ethos und von welchem Erkenntnisinteresse
müßte Ihrer Ansicht nach eine Ausstellung über das
Verhalten der Wehrmacht im Krieg gegen die Sowjetunion der Jahre
’41 bis ’45 ausgehen?
Zayas: Die Konzeption müßte allumfassend und, ich möchte
sagen, interdisziplinär sein. Es geht - freilich nicht nur
- um Militärgeschichte, um Gefechtsstrategien oder Taktiken
oder Schlachtenforschung. Es geht vielmehr um den politischen Zusammenhang
und vor allem um die juristische, völkerrechtliche Einordnung.
Man muß begreifen, daß viele Tötungen im Kriege
grausam und ganz entsetzlich sind, aber sie ereignen sich nach den
Regeln des Kriegsvölkerrechts. Und das ist ein Aspekt der damaligen
Ausstellung, die besonders unvollständig und mangelhaft war.
Nämlich die richtige Zuordnung: sind die gezeigten Greuel Kriegsverbrechen,
oder sind sie - leider - legalisierte Barbarei, aber innerhalb des
Kriegsrechts? Darüber hinaus ist es notwendig, das Gesamtbild,
den Kontext zu zeigen, vor allem für die Besucher, die den
Kontext nicht kennen. Es ist beispielsweise absolut unerläßlich,
daß der Besucher auch weiß, was die Kriegführung
seitens der Jugoslawen, seitens der Tito-Partisanen, was die ukrainischen
und sowjetischen Partisanen, als was die Rote Armee an Verhalten
gegenüber der Haager Landkriegsordnung gezeigt hat, gegenüber
der Genfer Konvention, gegenüber dem Schutz der Kriegsgefangenen
und so weiter.
Wie hat sie sich verhalten, Herr Professor?
Zayas: Wie Sie wissen, hat dies die Wehrmachtuntersuchungsstelle
für Verletzungen des Völkerrechts in richterlichen Ermittlungen
und eidesstattlichen Zeugnissen minutiös festgehalten. Darüber
sind im Koblenzer Bundesarchiv und im Militärarchiv Freiburg
laufende sieben Meter Akten erhalten. Und zwar auch über alliierte
Kriegsverbrechen, wovon vielleicht drei Viertel auf den deutsch-sowjetischen
Krieg entfallen. Da finden Sie Akten über Kriegsverbrechen
aller Art, und zwar vom allerersten Tag des Angriffes auf die Sowjetunion
an. Seit Juni 1941 gibt es Beweise für die Erschießung
und leider auch für die Verstümmelung von deutschen Kriegsgefangenen
in sehr, sehr hohen Zahlen.
Sie meinen also, daß dieser Aspekt der Kriegsverbrechen seitens
des sowjetischen Konfliktpartners auch mit dokumentiert werden müßte
in einer solchen Ausstellung?
Zayas: Das finde ich unerläßlich, das schuldet der
Veranstalter einer Ausstellung seinen Besuchern. Die Besucher müssen
diesen Kontext auch kennen, denn ansonsten kann man Ursache und
Folge nicht verstehen. Die Barbarei dieses deutsch-sowjetischen
Krieges ist nur dann wirklich vorstellbar, wenn man das Gesamtbild
kennt. Aber es gab noch andere Mängel der ersten Wehrmachts-Ausstellung.
Manche Kapitel sind z.B. total ausgespart, wie die Wehrmachtgerichtsbarkeit
zum Schutze - und ich unterstreiche das - zum Schutze der Zivilbevölkerung
in besetzten Gebieten. (...) Zum Verständnis der Wehrmacht
muß man auch das Agieren der Rechtsabteilung der Wehrmacht
einbeziehen. Man muß auch sehen, inwiefern in der deutschen
Armee Disziplin gehalten worden ist oder nicht. D.h. konkret muß
der Frage nachgegangen werden, inwiefern Ausschreitungen deutscher
Soldaten, Wehrmachtsoldaten, sei es durch Vergewaltigung, sei es
durch Plünderung, sei es durch Mißhandlung von Zivilisten
(...), inwiefern also diese deutschen Soldaten bestraft worden sind.
Des weiteren: wie scharf sind die Strafen gewesen? Das wäre
eine (...) ganz wichtige Aufgabe für deutsche Historiker (...),
um zu einem einigermaßen realistischen Gesamtbild zu kommen.
Wie würden Sie zusammenfassend das Agieren der deutschen Militärgerichtsbarkeit
charakterisieren?
Zayas: Auf sämtlichen Kriegsschauplätzen des Zweiten
Weltkrieges sind Fälle von deutschen Soldaten, die geplündert
und getötet haben, dokumentiert und ebenso die dazugehörenden
Feldurteile - fast alles ist in den Akten erhalten. Man müßte
nur hineinschauen und Quellenstudium betreiben.
Galt diese Kriegsgerichtsbarkeit auch bei Übergriffen gegen
die jüdische Zivilbevölkerung in der Sowjetunion?
Zayas: Es gibt solche Beispiele. Interessant wäre es allerdings,
sie zu quantifizieren. Aber es gibt eine Reihe Beispiele in den
Akten der Wehrmachts- Rechtsabteilung, wo Feldurteile von ordentlichen
Wehrmachtsgerichten gefällt worden sind, mit Todesurteil oder
sehr hoher Zuchthausstrafe, die verhängt worden sind, weil
Verbrechen an der jüdischen Bevölkerung begangen worden
sind. Sie werden das vielleicht als schizophren betrachten, ist
aber so, und die Akten sind da, frei für jeden, sie auszuwerten,
wenn man nur will!
Wenn Sie Ihren, offensichtlich breiter angelegten, wissenschaftlichen
Ansatz realisieren, handeln Sie sich wahrscheinlich von Kritikern
den Vorwurf ein, Sie relativierten die singulären NS-Verbrechen.
Beeindruckt Sie das?
Zayas: Keinesfalls! Ich finde, es ist unsere Aufgabe als Historiker,
das Gesamtbild darzulegen. Es geht in keiner Weise darum, irgendein
Verbrechen zu banalisieren oder gar zu relativieren. Es geht vielmehr
darum, Geschichte zu verstehen und ich finde, eine Geschichtsschreibung,
die nur einen Teil des Geschehens beleuchtet, grenzt an eine Lüge.
(Alfred de Zayas ist amerikanischer Historiker und Völkerrechtler.
Mit dem Harvard- Absolventen sprach Bernd Kallina für die Deutschlandfunk-Sendung
„DLF-Magazin“. Wir bringen das Hörfunk-Interview
leicht gekürzt)
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