60 Jahre nach Beginn der Vertreibung
bringen Sie, Herr Professor de Zayas, zwei völlig aktualisierte
Ausgaben Ihrer Bücher zur Vertreibung. Wie war die Aufnahme
der Bücher seinerzeit in Deutschland, und welche Aufnahme erwarten
Sie heute?
Prof. Dr. Dr. Alfred de Zayas: Als „Die Anglo-Amerikaner
und die Vertreibung“ 1977 im Verlag C.H. Beck erschien, wurde
das sofort ein Bestseller. Die Rezensionen in der ZEIT „in
der Beweisführung von bestechender Präzision“, Süddeutscher
Zeitung „von tiefem Ernst und bohrender Gründlichkeit“
usw. waren gut . Damals lebte noch die Erlebnis-Generation. Die
Vertriebenen wußten, was ihnen 1944-50 geschehen war. Die
Nichtvertriebenen wußten, was der Bombenkrieg bedeutete. Sie
hatten erlebt und erlitten und verstanden sich als Opfer. Als die
„Anmerkungen zur Vertreibung“ 1986 bei Kohlhammer erschienen,
waren die Rezensionen in der Historischen Zeitschrift, in der FAZ
auch phantastisch . Aber ich hatte den Eindruck, daß die Bereitschaft,
sich mit den Implikationen der Vertreibung auseinanderzusetzen,
kaum vorhanden war. Man betrachtete die Thematik nach wie vor als
unbequem, ja vielleicht gefährlich.
Wie war die Aufnahme der Bücher in Ihre Heimat den Vereinigten
Staaten?
Exzellent. Als „Nemesis at Potsdam“ im renommierten
Verlag Routledge in London und Boston erschien, folgten sehr gute
Rezensionen in der Internationalen Herald Tribune, in der Times
Educational Supplement, in der American Historical Review, American
International Law Journal, usw. Immerhin hatte der US-Staatsmann
Robert Murphy das Vorwort geschrieben. Als „The German Expellees“
bei Macmillan erschien, folgten auch großartige Rezensionen
in der London Times, im Ottawa Citizen – allerdings auch eine
nicht so freundliche Rezension von Fritz Stern in Foreign Affairs.
Ich erwartete gewissermaßen eine offene Diskussion unter Historikern
– dies geschah aber nicht. Man hatte die Thematik lanciert,
man hatte sich momentan damit beschäftigt, aber man hatte zugleich
die Tür geschlossen, denn die Thematik war immer noch nicht
gesellschaftsfähig.
Wie beurteilen Sie die Stimmung in Deutschland heute?
Leider weniger objektiv und nüchtern als damals. Ich bezweifle
sehr, daß ich heute diese Bücher bei C.H.Beck oder bei
Kohlhammer hätte veröffentlichen können, denn beide
Verlagen würden die Bücher als „politisch inkorrekt“
einstufen. Das war nicht so 1977 bzw. 1986. Erlauben Sie mir außerdem
eine generelle Bemerkung.
Ich finde die heutige deutsche Gesellschaft viel materialistischer
und leerer als die ältere Generation. Als Fulbright Stipendiat
in den 1970er Jahren lernte ich große Persönlichkeiten
kennen, Menschen für die Werte wie Ehre und Anstand etwas bedeuteten.
Ich war von Menschen wie Dr. Alois Mertes und Heinrich Windelen
beeindruckt. Die heutigen deutschen Politiker beeindrucken mich
kaum. Im Gegenteil. Die Situation ist ein bißchen surrealistisch.
Die Deutschen könnten und sollten sich freuen, daß sie
in einem friedlichen demokratischen Land leben. Aber sie manifestieren
überall ihren Pessimismus. In den 70er und 80er Jahren waren
die Deutschen vielleicht ärmer als heute, aber sie hatten mehr
Lebensfreude und mehr Hoffnung als heute.
Was ist der Unterschied zwischen Ihren beiden Büchern?
Die „Nemesis von Potsdam“ ist eine wissenschaftliche
Arbeit mit einem Anmerkungsapparat von 64 Seiten und eine Bibliographie
von 57 Seiten. Das Buch untersucht vor allem die diplomatische Geschichte
der Vertreibung anhand der Akten der Konferenzen von Teheran, Jalta
und Potsdam, und dabei untersucht es die Frage, welche Verantwortung
die Westalliierten für die verhängnisvollen Entscheidungen
tragen. Das Buch ist leicht zu lesen, aber es sind praktisch keine
Bilder dabei. „Die deutschen Vertriebenen“ ist eine
populärwissenschaftliche Arbeit mit mehr als 120 Bildern und
nur 104 Endnoten. Sie untersucht die Vertreibung aus der Perspektive
der Opfer, d.h. der Vertriebenen, nicht der Politiker.
Was ist eigentlich neu in den Ausgaben?
Ich habe jede Zeile beider Bücher noch einmal gelesen, und
habe kleine und größere Änderungen und Ergänzungen
überall gemacht. In beiden Büchern ist die Paginierung
völlig anders geworden, was ein neues Register erforderlich
machte. In beiden Büchern kommen auch neue statistischen Tabellen,
neue Dokumente, neue Zeugenaussagen. Beide Bücher sind bis
zum Herbst 2005 aktualisiert worden, unter Verwendung von vielen
neuen UNO-Dokumenten, Resolutionen, Untersuchungen, Erklärungen,
Urteile des UNO-Menschenrechtsausschusses und des Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte, auch der Rede vom ersten UNO-Hochkommissar
für Menschenrechte Dr. Jose Ayala Lasso, in Berlin am 6. August
2005 und mit Zitaten von Papst Benedikt XVI. Grosso Modo kann man
sagen, daß die Bücher wohl 20% neues Material erhalten.
Was halten Sie für besonders wichtig in Ihren Büchern
?
Die „Nemesis von Potsdam“ beweist aufgrund Archivdokumente
und aufgrund Interviews mit den beteiligten Politikern und Diplomaten,
Teilnehmern an der Potsdamer Konferenz - wie George Kennan, James
Riddelberger, Sir Geoffrey Harrison, Sir Dennis Allen, Lord Strang
usw. - daß die Anglo-Amerikaner zwar historische, juristische
und moralische Verantwortung für die Vertreibung tragen –
allerdings wollten sie etwas ganz anders bewirken, als dann auch
geschah. Sie wollten eine beschränkte Umsiedlung und eine gewisse
Entschädigung an Polen. Sie wollten, den Deutschen eine Lehre
erteilen wollten, aber dabei keine menschliche Katastrophe und schon
keinen Völkermord verursachen. Bei Stalin und bei den Vertreiberstaaten
sah es anders aus. Sie beabsichtigten Landraub im großem Stil
und dabei die Beseitigung möglichst vieler Deutscher. Es war
reiner Rassismus. Nach den Aussagen Benesch und nach den Benesch-Dekreten
erfüllte die Vertreibung der Sudentedeutschen die Kriterien
des Artikels II der Völkermordkonvention. Bei Bierut war die
Vernichtungsabsicht nicht so deutlich, jedoch muß man sowohl
die Vertreibung aus Polen und den deutschen Ostprovinzen als die
Vertreibung aus der Tschechoslowakei als Verbrechen gegen die Menschheit
bewerten. Jedenfalls können sich weder Polen noch Tchechien
auf Artikel XIII des Potsdamer Protokolls berufen, um die Vertreibung
der Deutschen gewissermaßen zu legitimieren, denn sie haben
konsequent und fortwährend gegen Geist und Buchstaben des Potsdamer
Beschlusses gehandelt.
„Die deutschen Vertriebenen“ verwirft die menschenverachtende
Täter/Opfer Schablone, es widerspricht dem Prinzip der Kollektivschuld
und stellt die menschenrechtliche Problematik ins Zentrum der Untersuchung.
Am Ende des Buches fasse ich alles in 10 historischen Thesen, 12
völkerrechtlichen Thesen und 10 Schlußfolgerungen zusammen.
Was möchten Sie erreichen ?
Daß die amerikanischen, britischen, deutschen, polnischen,
russischen und tschechischen Historiker ihre Pflicht tun –
und sich in aufrichtiger Weise mit der Vertreibung auseinandersetzen.
Dabei könnten sich meine historischen und völkerrechtlichen
Thesen als nützlich erweisen.
Warum haben Sie diese Thesen geschrieben?
Um die wissenschaftliche Diskusion zu erleichtern. Ich halte sie
für didaktisch nützlich. Gymnasiallehrer könnten
sie durchaus im Unterricht als Themen für Hausarbeiten oder
für Arbeitsgruppen einsetzen. Es ist an der Zeit, daß
die Vertreibung der Deutschen in allen Schulen gelehrt wird, eben
als ein Kapitel in der Geschichte Deutschlands und Europas. Die
Thematik darf nicht ausgeklammert, noch relativiert oder bagatellisiert
werden.
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