Junge Freiheit 14. Oktober 2005
„VERBRECHEN GEGEN DIE MENSCHHEIT“
Interview: Der amerikanische Völkerrechtler Alfred de Zayas
über die Vertreibung der Deutschen
Herr Professor de Zayas, 1977 erschien Ihr vom internationalen
Feuilleton hochgelobtes Buch „Die Anglo-Amerikaner und die
Vertreibung der Deutschen“, das nun unter dem Titel „Die
Nemesis von Potsdam“ neu aufgelegt worden ist (siehe Seite
36). Der Historiker Kristián Ungváry hat in einem
Interview mit dieser Zeitung im Juli (JF 30/05) die Westalliierten
mit Blick auf die Vertreibung als „gerechte Sieger“
bezeichnet. Teilen Sie diese Bewertung?
de Zayas: Sieger wohl, aber nicht immer gerecht, und gewiß
nicht im Sinne der Atlantik-Charta, an der ich festhalten möchte.
Der Bombenkrieg gegen die Zivilbevölkerung war zweifellos völkerrechtswidrig
und militärisch sinnlos. Die Vertreibung war ein Verbrechen
gegen die Menschheit. Zwar haben die Anglo-Amerikaner die Vertreibung
in Potsdam weder angeordnet noch genehmigt, aber sie hatten das
Prinzip des „Bevölkerungstransfers“ bereits im
Jahre 1942 akzeptiert. Seit 1938 warb der tschechoslowakische Präsident
Edvard Benes für diese menschenverachtende Idee. Nach dem Fall
Lidice holte er sich in London, Washington und Moskau die explizite
Genehmigung zur Umsiedlung eines Teils der „illoyalen“
Deutschen aus Böhmen und Mähren.
Nach Lidice? Dann trifft die These von der Vertreibung als Strafe
für die Verbrechen der Nazis doch zu?
de Zayas: Ich halte es nicht für akzeptabel, daß die
Anglo-Amerikaner, die nach eigenem Anspruch gegen Hitlers verbrecherische
und rassistische Politik zu Felde gezogen sind, am Ende des Krieges
selbst eine menschenverachtende und rassistische Politik betreiben
oder zulassen. Bitte bedenken Sie, daß das Nürnberger
Tribunal die an Umfang weit geringeren durch die Nationalsozialisten
durchgeführten Vertreibungen in Polen sowohl als „Kriegsverbrechen“
als auch als „Verbrechen gegen die Menscheit“ bestätigt
hatten! Und ich kann dies insbesondere deshalb nicht akzeptieren,
weil die Absicht zur ethnischen Säuberung aller Deutschen sogar
den Tatbestand des Artikel 2 der Völkermordkonvention von 1948
erfüllt.
Diese Völkermord-Dimension ist aber kaum den Westalliierten
anzulasten, da sie nur einem „ordnungsgemäßen und
humanen Transfer“ ihre Zustimmung gegeben hatten.
de Zayas: Das ist richtig. Aber darf ich Sie zunächst einmal
daran erinnern, daß man nicht so tun kann, als ob eine „ordnungsgemäßer
Transfer“ kein Verbrechen gegen die Menschheit sei. Vertreibung
stellt – gleichgültig, wie sie vonstatten geht –
per se eine schwere Menschenrechtsverletzung dar. Es ist aber richtig,
daß die Forderung der Westalliierten nach einem solchen Transfer
uns zumindest vor dem Vorwurf einer Verantwortung für einen
vorsätzlichen Völkermord bewahrt.
Haben die Westalliierten aber nicht de facto durch ihr grundsätzliches
Einverständnis zu diesem Transfer im Abschlußkommunique
von Potsdam den Boden für die Völkermord-Vertreibung bereitet?
de Zayas: Sicherlich beabsichtigten die Anglo-Amerikaner keinen
Völkermord. Nur Henry Morgenthau hat einen völkermordähnlichen
Plan verfaßt, der aber von Präsident Truman nicht in
die Tat umgesetzt wurde. Wie gesagt, was den Verlust der Heimat
betrifft, kann es gar keine humane Form des Transfers geben, denn
er stellt an sich schon einen Akt der Barbarei dar. Warschau und
Prag haben später immer wieder behauptet, sie hätten nur
vollzogen, was in Potsdam beschlossen worden sei. Das stimmt vorne
und hinten nicht! Denn in Potsdam – in Artikel 13 –
wurde versucht, die laufenden Vertreibungen zu stoppen und eventuelle
künftige Transfers allein durch den Alliierten Kontrollrat
in Berlin regeln zu lassen. Weder die Polen noch die Tschechen hielten
sich an das Vertreibungsmoratorium, wie General Eisenhower feststellte,
was zu Protestnoten an Warschau und Prag führte. Allerdings
ist die Frage, ob der Transfer geregelt oder gewalttätig stattgefunden
hat, lediglich eine Frage nach dem Grad der Schuld: Nämlich,
ob zur Barbarei des Heimatverlusts auch noch die Barbarei von Diebstahl,
Vergewaltigung, Mord und Tod hinzukommt. Fazit: Auch die in Potsdam
vereinbarte Variante eines geregelten Transfers ist nach den juristischen
und moralischen Maßstäben, für die die Westalliierten
zu kämpfen vorgegeben haben, ein schweres Menschrechtsverbrechen.
„Im Grunde waren Churchill und Roosevelt Kriegsverbrecher“
Haben die Westalliierten wenigstens subjektiv an die Möglichkeit
eines geordneten Transfers geglaubt?
de Zayas: Die Experten im amerikanischen und britischen Außenministerium
haben stets davor gewarnt. Sie waren sich bewußt, wie gefährlich
eine solche Maßnahme war. Aber die Politiker nahmen auf diese
Bedenken keine Rücksicht, weil sie politische Ziele verfolgten.
Diese Leichtfertigkeit ist mit dem Argument einer „gewissen
Naivität“, wie Sie es vorbringen, für meine Begriffe
kaum zu entschuldigen. Und wenn man bedenkt, mit welchem Zynismus
etwa Churchill in Teheran seine berühmten drei Streichhölzer
aus der Tasche zog, um die Verschiebung der Sowjetunion nach Polen
und Polens nach Deutschland darzustellen, dann wird augenfällig,
daß es sich bei ihm objektiv betrachtet – ebenso wie
bei meinem Präsidenten Roosevelt – im Grunde um einen
Kriegsverbrecher gehandelt hat.
„Glauben Sie, die Vertreibung der Deutschen wäre erwähnt
worden?“
Wie wird die Vertreibung heute, 60 Jahre danach, in den USA reflektiert?
de Zayas: Die Vertreibung der Deutschen ist bei uns bis heute in
gewisser Weise ein Tabu. Ich habe zum Beispiel in meiner Zeit als
Student der Geschichte – immerhin in Harvard – nie auch
nur ein Wort über die Vertreibung gehört. Erst während
meines Studiums der Rechte bin ich im Zusammenhang mit Völkerrechtsfragen
darauf gestoßen. Ein anderes Beispiel: In den neunziger Jahren
haben die US-Zeitungen heftig gegen die „ethnischen Säuberungen“
im ehemaligen Jugoslawien angeschrieben. Aber glauben Sie nicht,
daß dabei auch nur ein einziges Mal die Vertreibung der Deutschen
erwähnt worden wäre. Das Problem ist, daß wir Amerikaner
unsere eigenen Prinzipien kaum je auf unser eigenes Handel anwenden,
sondern sie in der Regel aggressiv gegen andere richten. Insofern
sind wir das genaue Gegenteil der heutigen Deutschen, die ihre Prinzipien
bevorzugt gegen sich selbst anwenden, während sie bei anderen
moralisch oft sehr viel milder sind.
Sie waren unlängst, am 6. August, zum Festakt des Bundes der
Vertriebenen (BdV) anläßlich des Gedenkens an 60 Jahre
Flucht und 55 Jahre Charta der Heimatvertriebenen in Berlin zu Gast.
Wie bewerten Sie die Situation in Deutschland?
de Zayas: Exemplarisch ist die Reaktion auf diesen Festakt. Außer
der FAZ und Ihrem Blatt hat keine deutsche Zeitung über diese
Veranstaltung korrekt – oder überhaupt — berichtet!
Nicht einmal die Berliner Blätter! Das gleiche habe ich beim
Festakt vor zehn Jahren erlebt. Der damalige Hochkommissar für
Menschenrechte der Vereinten Nationen, José Ayala-Lasso,
schrieb damals in seinem Grußwort: „Ich bin der Auffassung,
hätten die Staaten seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges mehr
über die Implikationen von Flucht und Vertreibung (der Deutschen)
nachgedacht – die heutigen demographischen Katastrophen, die
vor allem als ‘ethnische Säuberungen’ bezeichnet
werden, wären vielleicht nicht in diesem Ausmaß vorgekommen.“
Was aber haben die deutschen Medien damals daraus gemacht? Nichts!
Was haben die deutschen Völkerrechtler daraus gemacht? Nichts!
Was haben die deutschen Historiker daraus gemacht? Nichts!
2002 gab es eine breite Debatte anläßlich des Erscheinens
der Novelle „Im Krebsgang“ über die Rolle der Deutschen
als Opfer von Krieg und Vertreibung. Die Presse sprach damals fast
einhellig vom Bruch eines Tabus.
de Zayas: Und heute ist die Situation wieder so, als hätte
es diese Debatte überhaupt nicht gegeben. Dabei hatte ich doch
gewisse Hoffnungen gehegt, denn schließlich hatte „Im
Krebsgang“ nicht irgendwer, sondern der Nobelpreisträger
Günter Grass geschrieben!
Bereits das Erscheinen von „Die Anglo-Amerikaner und die Vertreibung
der Deutschen“ in Deutschland hatte eine breite Debatte ausgelöst.
Sie haben schließlich sogar 1981 an der großen ARD-Dokumentation
unter dem Titel „Flucht und Vertreibung“ mitgewirkt.
de Zayas: Das war die erste große TV-Dokumentation zu diesem
Thema im deutschen Fernsehen. Auch damals schien es so, als breche
das Tabu. Doch statt daß mein Buch einen nachhaltigen Bewußtseinswandel
bewirkt hätte, begann man – obgleich nie eine ernstzunehmende
wissenschaftliche Kritik dagegen vorgebracht wurde – es mit
dem Etikett „umstritten“ zu belegen.
Wie erklären Sie sich das?
de Zayas: Wenn man die äußerst lobenden Rezensionen,
die damals nicht nur in angelsächsischen Fachzeitschriften
wie American Journal of International Law, American Historical Review,
British Book News oder dem Times Educational Supplement, sondern
auch in der deutschen Presse, etwa in der Zeit, der FAZ oder der
Süddeutschen Zeitung erschienen sind, bedenkt, so ist das kaum
zu verstehen. Ich kann es mir allein mit dem unheilvollen Wirken
der Political Correctnes in Deutschland erklären. Denn wenn
man die Thesen meines Buches ernstgenommen hätte, hätte
man mit der Behandlung des Themas Vertreibung nicht mehr so weitermachen
können wie bisher. Um diesem Dilemma zu entgehen, mußte
man das Buch für politisch „umstritten“ erklären.
„Ich halte Erika Steinbach
für eine sehr mutige Person“
Besteht die Chance, daß das geplante Zentrum gegen Vertreibungen
(ZgV) ein erneutes Aufbrechen des Tabus bewirkt?
de Zayas: Angesichts dessen, wie die Debatte um das Zentrum bisher
in Deutschland geführt wird – es nämlich vor allem
als eine eher abstruse, vielleicht sogar potentiell gefährliche
Idee darzustellen –, bin ich eher skeptisch. Es ist erstaunlich,
wie weit man damit in Deutschland kommt, ehrenwerten Persönlichkeiten
wie der BdV-Chefin Erika Steinbach oder dem jüngst leider verstorbenen
ZgV-Vorsitzenden Peter Glotz unterschwellig „Revisionismus“
zu unterstellen.
Erika Steinbach ist einerseits Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen,
andererseits aber auch Abgeordnete des Deutschen Bundestags für
eine Partei, die die These von der Vertreibung als Folge der deutschen
Kriegsschuld teilt – wie im Mai die Position der CDU/CSU in
der Debatte anläßlich des 60. Jahrestages des Kriegsendes
gezeigt hat. Sehen Sie einen Konflikt?
de Zayas: Die Vertreibung als logische Folge des Krieges oder moralische
Folge der Verbrechen der Nationalsozialisten darzustellen, ist eine
rein ideologische Konstruktion, die geschichstwissenschaftlich nicht
zu halten ist. Tschechen und Polen haben bereits vor dem Krieg Pläne
zur Annexion Ostdeutschlands beziehungsweise zur Vertreibung der
Deutschen aus dem Sudetenland gehegt. Der Krieg hat ihnen lediglich
die Möglichkeit geboten, ihre aggressiven Pläne umzusetzen.
Der Konflikt, den Sie benennen, ist in der Tat ein ernstes Problem,
denn natürlich muß sich Frau Steinbach – sowohl
als Verbandsvertreterin wie auch als Politikerin – taktisch
verhalten. Ich möchte das nicht bewerten, sondern statt dessen
betonen, daß ich Frau Steinbach für eine ausgesprochen
mutige und innerlich absolut ehrliche Person halte, die jede Unterstützung
verdient hat. Das Zentrum gegen Vertreibungen ist eine hervorragende
Initiative, die erst vor wenigen Wochen, eben am 6. August, auch
der ehemalige Uno-Hochkommissar für Menschenrechte Ayala-Lasso
ausdrücklich unterstützt hat. Denn auch Ayala-Lasso, der
Lateinamerikaner ist, glaubt an das Recht auf die Heimat. Ich halte
die Hetze aus Polen und Tschechien gegen das ZgV für unaufrichtig
und menschenverachtend.
60 Jahre Flucht und Vertreibung: Wie sehen Sie die Zukunft der deutschen
Vertriebenenverbände?
de Zayas: Die Vertriebenenverbände stehen natürlich unter
großem Druck: In starker personeller Schrumpfung begriffen,
mit sehr geringer staatlicher Förderung und ohne politischen
Einfluß. Dabei bedauere ich, daß die Vertriebenen sich
offensichtlich nicht genug um die Integration der eigenen Jugend
in die Verbände und um deren Identifikation mit dem Vertriebenenschicksal
bemüht haben. Andererseits muß man feststellen, daß
die deutschen Vertriebenen mehrfach furchtbar im Stich gelassen
wurden: zunächst von der SPD, dann von der CDU/CSU. Hoffnung
besteht für die Vertriebenen nur, wenn es der deutschen Gesellschaft
gelingt, sich von der verlogenen Political Correctness und von den
stupiden Täter/Opfer-Schablonen zu befreien, das Desinteresse
am eigenen nationalen Schicksal zu überwinden und sich mit
der deutschen Vergangenheit in Verantwortung zu versöhnen.
MORITZ SCHWARZ
Der US-amerikanische Völkerrechtler und Historiker Prof. Dr.
Alfred de Zayas, Jahrgang 1947, war 22 Jahre Beamter bei den Vereinten
Nationen, unter anderem als Sekretär des Uno-Menschenrechtsausschusses.
Er lehrte Völkerrecht an verschiedenen Universitäten in
Amerika, Kanada und Europa. Er ist Autor zahlreicher Bücher
– „Die Nemesis von Potsdam. Die Anglo-Amerikaner und
die Vertreibung der Deutschen“ (Herbig, 2005), „Heimatrecht
ist Menschenrecht“ (Universitas, 2001), „Die Wehrmachtsuntersuchungsstelle“
(Universitas, 1979) – und der ersten Übersetzung von
Rilkes „Larenopfer“ mit Kommentar (Los Angeles, 2005).
Der Generalsekretär des PEN International, Centre Suisse romande,
lebt heute in Genf. Kontakt und Informationen unter www.alfreddezayas.com.
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