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UNRECHT BLEIBT UNRECHT: DIE VERTREIBUNG DER DEUTSCHEN EIN UNBEWÄLTIGTES MENSCHENRECHTLICHES PROBLEM

Berlin, 13. Mai 1995

von Alfred de Zayas (1)

Sehr verehrte Damen und Herren!

Ich halte es für eine besondere Ehre, heute vor Ihnen zu sprechen. Heute, 50 Jahre nach dem Ende des europäischen Teils des 2. Weltkrieges, das für viele ein Ende des Leidens bedeutete, für andere aber die Fortsetzung der Unmenschlichkeit und des Mordens. Für Manche: Befreiung. Für Millionen Ostdeutscher: Entrechtung und Vertreibung. Darum sollen wir uns auf die Menschenrechte von a l l e n besinnen, und Solidarität mit den Opfern zeigen.

Als Nicht-Deutscher möchte ich allen hier anwesenden gestehen, dass vor zwanzig Jahren, als ich als Fulbright Stipendiat nach Deutschland kam, ich praktisch nichts über die Vertreibung der Ostdeutschen wusste. Heute erkenne ich, dass auch den Deutschen viel Unrecht getan wurde, und dass es ein moraliches Gebot ist, dieses Unrecht wiedergutzumachen.

Mir ist es klar, und es sollte jedem Bürger Europas klar sein -- im Grunde jedem, der Geschichte nicht selektiv bewältigt -- dass die Vertreibung der Deutschen aus ihrer Heimat am Ende des Zweiten Weltkrieges zu den grössten Verbrechen dieses Jahrhunderts gehöhrt. Sie war damals und bleit heute ein internationales Unrecht, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Fünfzig Jahre sind seitdem vergangen. Zwei Generationen sind nach dem Kriege geboren worden. Die Vertriebenen haben sich musterhaft integriert. Sie haben zum Wirtschaftswunder in Deutschland und zur europäischen Inegration wesentlich beigetragen. Sie haben das Unrecht wohl verkraftet, jedoch nicht vergessen.

Wie könnte die unmenschliche Vertreibung von 15 Millionen Menschen und der Tod von mehr als zwei Millionen jemals vergessen werden? Es wäre Hohn und Unbarmherzigkeit den Opfern gegenüber. Nein, obwohl manche Zeitgeistreiter es so wollen, die Vertreibung darf nicht in Vergessenheit geraten. In den Schulen und in den Universitäten in Deutschland und im Ausland muss die Geschichte der Vertreibung gelehrt werden.

In meiner Heimat, der Vereinigten Staaten von Amerika, wird übe das Unrecht an den Juden Europas gelehrt. Das jüdische Volk erinnert sich und wird sich immer erinnern. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Menschen die Versöhnung nicht suchen. Im Gegeneil. Denn ohne Erinnerung kann es keine echte Versöhnung geben. Die Erfahrung millionenfachen Todes ist ein Teil des Innern jedes Juden in der Welt, denn ein solches Grauen kann nicht vergessen werden. Die Erinnerung gehöhrt auch zum jüdischen Glauben. Wer kennt das oft zitierte jüdische Weisheit nicht:

"Das Vergessenwollen verlängert das Exil,

Und das Geheimnis der Erlösung heisst Erinnerng"

Man kann es halso den deutschen Vertriebenen nicht verübeln, dass auch sie ihre Opfer mit Ehrfurcht gedenken. Es gibt kein Monopol des Leidens. Und aller Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft gebührt unser Respekt. Leiden ist individuell, nicht kollektiv. Sie wird nicht aufgerechnet. Sie wird nicht relativiert. Sie wird empfunden. Und vielleicht erwächst sogar einmal etwas positives aus der traurigen Erfahrung. Sie könte nämlich als negatives Beispiel wirken, damit anderen Völkern die Tragödie der Entwurzelung erspart bleibe. Aber leider sehen wir heute zu, während Bosniern und Kroaten vertreiben werden, wie sich die sog. ethnischen Säuberungen im ehemaligen Jugoslawien seit Jahren fortsetzen -- trotz KSZE, Europäischer Union und Vereinten Nationen.

Und dennoch ist es wichtig, dass erkannt wird, dass jede Entwurzelung aus der Heimat -- egal wer die Opfer, ob Deutsche oder Polen, ob Japaner aus den Kurilen Inseln, ob muslemischen Bosniern aus Bosnien-Herzegowina, ob Autochthonen aus dem Amazonas -- jede Vertreibung stellt eine ernste Verletzung des allgemeinen Völkerrechts, insbesondere der Normen des humanitären Kriegsvölkerrechts und der Menschenrechte.

Erlauben Sie mir, dass ich den völkerrechtlichen Rahmen der Vertreibung der Deutschen kurz beleuchte, sowohl im Grundsätzlichen als auch wegen der Art, wie sie sich abspielte.

Erstens muss grundsätzlich festgestellt werden, dass das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das als ius cogens oder bindendes Völkerrecht anerkannt wird, notwendigerweise das Recht auf die Heimat beinhaltet, denn man kann nur das Selbstbestimmungsrecht ausüben, wenn man aus der Heimat nicht vertrieben wird. (2)

Zweitens muss auf die Haager Landkriegsordnung von 1907 hingewiesen werden, die im Zweiten Weltkrieg und auch heute Gültigkeit besitzt. Artikel 42-56 beschränken nämlich die Befugnisse von Okkupanten in bestzen Gebieten und gewährend jeder Bevölkerrung Schutz, insbesondere der Ehre und der Rechte der Familie, des Lebens der Bürger und des Privateigentums (Artikel 46), und verbieten Kollektivstrafen (Artikel 50). Eine Massenvertreibung ist mit der Haager Landkriegsordnung in keiner Weise in Einklang zu bringen. Auch Verschleppungen zur Zwangsarbeit sind verboten -- und keine Vereinbarung in Jalta oder Potsdam kann sie legalisieren.

Drittens verurteilte die Rechtsprechung des Internationalen Militärtribunals in Nürnberg die Depotationen und Zwangsumsiedlungen, die von den Nationalsozialisten durchgeführt worden waren, als Kriegsverbrechen und als Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Da das Völkerrecht per defnitionem universale Geltung hat, stellten die Vertreibungsaktionen gegen die Deutschen, gemessen an denselben Prinzipien, ebenfalls Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar.

Viertens wissen wir, dass sich manche Politiker und Politologen, die die Vertreibung wegdenken und bagatellisieren wollen, auf die Beschlüsse der Potsdamer Konferenz vom August 1945 gerne berufen. Jedoch konnten der berüchtigte Artikel XIII des Potsdamer Protokolls keine Legalisierung der Vertreibung der Deutschen bewirken. Denn die Alliierten hatte keine unbeschränkte Verfügungsgewalt über das Leben der Ostdeutschen. Auch wenn es ein "Interalliiertes ransferabkommen" gegeben hätte (und Artikel XIII stellt kein solches Abkommen dar), müsste es nach völkerrechtlichen Prinzipien beurteilt werden. Im übrigen kann die Vertreibung der Deutschen nicht als Repressalie für deutsche Kriegsverbrechen gerechtfertigt werden, denn die völkerrechtlichen Bedingungen für eine Repressalie waren nicht gegeben.

Fünftes sprach jener Artikel XIII auch von einer sog. "geregelten und humanen" Umsiedlung. Beinhaltet dieser Satz eben nicht ein unerträglicher Zynismus? Denn es gibt keine "humanen" Zwangsumsiedlungen. Dies ist ein Widerspruch in sich. Wie könnte der erzwungene Verlust der Heimat jemals als human bezeichnet werden? Tausende Berichte in der Ostdokumentation des Bundesarchivs in Koblenz bezeugen die Brutalität dieser "Umsiedlungen". Doch berufe ich mich heute nicht auf deutsche Zeugen, sondern auf amerikanische und britische.

Am 18. Oktober 1945 telegraphierte General Dwight Eisenhower von Berlin nach Washington:

"In Schlesien verursachen die polnische Verwaltung und ihre Methoden eine grosse Flucht der deutschen Bevölkerung ... viele, die nicht weg können, werden in Lager interniert, wo unzureichende Rtionen und schlechte Hygiene herrsche. Tod und Krankheit in diesen Lagern sind extrem hoch. Die von den Polen angewandten Methoden entsprechen in keiner Weise der Potsdamer Vereinbarung ... Die Todesrate in Breslau hat sich verzehnfacht, und eine Säuglingssterblichkeit von 75 Prozent wird berichtet. Typhus, Fleckfieber, Ruhr und Diphtherie verbreiten sich." (3)

Ein zweiter Zeigenosse, der grosse britiche Verleger und Philantrop Victor Gollanc schrieb in seinem Buch "Unser bedrohtes Erbe":

"Sofern das gewissen der Menchen jemals wieder empfindlich werden sollte, werden diese Vertreibungen als die unsterbliche Schade aller derer im Gewissen bleiben, die sie veranlasst oder sich damit abgefunden haben ... Die Deutschen wurden vertrieben, aber nicht einfach mit einem Mangel an übertriebener Rücksichtnahme, sondern mit dem denkbar höchsten Mass von Brutalität." (4)

Dies, meine Damen und Herren, nach Victor Gollancz, der übrigens jüdischen Glaubens war.

Am 19. Oktober 1945 protestierte Bertrand Russel in The Times:

"In Osteuropa werden jetzt von unseren Verbündeten Massendeportationen in einem unerhörten Ausmass durchgeführt, und man hat ganz offensichtlich die Absicht, viele Millionen Deutsche auszulöschen, nicht durch Gas, sondern dadurch, dass man ihnen ihr Zuhause und ihre Nahrung nimmt und sie einem langen schmerzhaften Hungertod ausliefert. Das gilt nicht als Kriegsakt, sondern als Teil einer bewussten, 'Friedens'-Politik."

Robert Murphy, der politischer Berater Eisenhowers, äusserte seine Sorge über das Massensterben der Vertriebenen und über die moralischen Implikationen der Vertreibung in einem Bericht an das U.S State Department vom 12. Oktober 1945:

"Unser Wissen, dass sie Opfer harter politischer Beschlüsse sind, die mit äusserster Rucksichlosigkeit und Missachtung der Menschlichkeit durchgeführt werden, mildert die Wirkung nicht. Die Erinnerung an andere Massendeportationen stellt sich ein, von denen die Welt entsetzt war und die den Nazis den Hass eintrugen, den sie verdienten. Die Massendeportationen, die von den Nazis inszeniert wurden, haben zu unserer moralischen Empörung beigetragen, in der wir den Krieg wagten und die unserer Sache Kraft verlieh.

Nun ist die Sache umgekehrt. Wir finden uns in der scheusslichen Lage, Partner in diesem Unternehmen zu sein, und als Partner unweigerlich die Verantwortung mitzutragen. Die Vereinigten Staten kontrollieren allerdings nicht unmittelbar die Ostgebiete Deutschlands, durch welche diese hilflosen und ausgeraubten Menschen ziehen, nachdem man sie aus ihrem Heim gewiesen hat. Die unmittelbare Verantwortung liegt bei der polnischen provisorischen Regierung und in geringerem Mass bei der tschechischen... Wenn die Vereinigten Staaten auch vielleicht keine Mittel haben, einen grausamen, unmesnchlichen und immer noch fortgesetzten Prozess aufzuhalten, so scheint es doch, dass unsere Regierung unsere in Potsdam klar dargelegte Einstellung unmissverständlich wiederholen könnte und müsste. Es wäre sehr bedauerlich, wenn es einmal heissen sollte, dass wir an Methoden beteiligt gewesen seien, die wir bei anderen Gelegenheiten oft verdammt haben." (5)

Damit, meine Damen und Herren, dürfte die These einer "geregelten und humanen" Umsiedlung ausreichend widerlegt worden sein. Kehren wir also zur völkerrechtlichen Betrachtung zurück.

Sechstens sind nach dem Stand des heutigen Völkerrechts Zwangsumsiedlungen rechtswidrig. Artikel 49 der IV Genfer Konvention über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten vom 12. August 1949 berbietet Zwangsumsiedlungen. Sie sind ausnahmsweise nur dann gestattet, wenn zwingende militärische Gründe zu dem einzigen Zweck, die Bevölkerung zu schützen, eine Evakuierung erfordern. Solche Evakuierungen, die sowieso nur vorübergehend sein dürften, sind illegal, wenn sie aus einer Lebensraumspolitik abgeleitet werden.

Siebtens und vielleicht schliesslich - verstossen in Friedenszeiten Vertreibungen gegen die UNO Charta, gegen die Menschenrechtserklärung vom 10. Dezember 1948 und gegen die Menschenrechtspakte von 1966. Für die Unerzeichner des Vierten Protokolls der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und der Grundfreiheiten gilt Artikel 3: "Niemand darf aus dem Hoheitsgebiet des Staates, dessen Staatsangehöriger er ist, durch eine Einzel- oder eine Kollektivmassnahme ausgewiesen werden ..."

Somit ist es klar, dass Vertreibungen und ethnische Säuberungen völkerrechtswidrig sind.

Die Völkerrechtswidrigkeit der Vertreibung hat auch rechtliche Konsequenzen -- insbesondere nach dem Reparationsrecht, etwa nach dem Artikel 3 der IV. Haager Konvention vom 18. Oktober 1904 betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkrieges, der besagt: "Die Kriegspartei, welche die Bestimmungen der bezeichneten Ordnung verletzen sollte, ist gegebenen Falles zum Schadensersatz verpflichtet. Sie ist für alle Handlungen verantwortlich, die von den zu ihr bewaffneten Macht gehörenden Personen begangen werden.". Vertreibungen, die erst nach der deutschen Kapitulation durchgeführt wurden, sind nicht anders zu beurteilen, denn die Anwendung der Haager Konvention hörte mit der Kapitulation der Wehrmacht am 8. Mai 1945 nicht aus, sondern erst mit der Wiederherrstellung des Friedenszustandes.

Ferner besteht im Völkerrecht ein Rückkehrrecht in die angestammte Heimat. Dieses Recht ist in den Vereinten Nationen zwar nie in bezug auf Deutschland diskutiert worden. Jedoch hat die Beschäftigung mit derselben Frage in Bezug auf den Nahen Osten zur Anerkennung des Rechtes der Palästinenser zur Rückkehr geführt -- angefangen mit der Resolution der Vollversammlung der Vereinten Nationen Nr. 194 (III) vom 12. Dezember 1948, die in etlichen späteren Resolutionen der Generalversammlung und der UNO Menschenrechtskommission wiederholt und bestätigt wurde. Die UNO hat das Rückkehrrecht von Zyprioten, Afghanen, Bosniern und Krotaten auch förmlich anerkannt.

Das jüngste Bekenntnis der UNO zum Recht auf die Heimat lieferte am 26. August 1994 die Unterkommission für Diskriminierungsverhütung und Minderheitenschutz in ihrer Resolution 1994/24, welche das Recht jedes Menschen, in Frieden in seinem eigenen Heim, auf seinem eigenen Grund und Boden und in seinem eigenen Land zu leben bekräftigt. Ausserdem unterstreicht die Resolution das Recht von Flüchtlingen und Vertriebenen, in Sicherheit und Würde in ihr Herkunftsland zurückzukehren. Somit werden zwei wesentliche Aspekte des Rechtes auf die Heimat noch einmal bestätigt: das Recht, in der Heimat zu verbleiben, und das Recht, in die Heimat zurückzukehren. Schliesslich fordert die Unterkommission alle Regierungen und andere Beteiligte nachdrücklich auf, alles in ihrer Macht stehende zu tun, um unverzüglich allen Praktiken der Vertreibung, des sog. Bevölkerungstransfers und der "ethnischen Säuberungen" ein Ende zu setzen.

Ferner hat diese UNO-Kommission durch ihre Resolution 1992/28 zwei Sonderberichterstatter ernannt, Awn Shawkat Al-Khasawneh (Jordan) und Ribot Hatano (Japan), die z.Zt. die menschenrechtlichen Dimensionen von Bevölkerungsumsiedlungen untersuchen. Ihr erster Bericht wurde bereits 1993 erstellt (6). Ein weiterer Bericht wurde von Al-Khasawneh 1994 vorgelegt, in welchem die Völkerrechtswidrigkeit von Vertreibungen festgehalten wird (7).

Al-Khasawneh ist auch Mitglied der UNO-Völkerrechtskommission, welche 1992 einen Draft Code of Crimes Against the Peace and Security of Mankind annahm, in dem die Vertreibung von Menschen aus ihrer angestammten Heimat als internationales Verbrechen definiert wird (8). Im Kommentar zum Artikel 21 heisst es:

"a crime of this nature could be committed not only in time of armed conflict but also in time of peace ... Deportation, already included in the 1954 draft Code, implies expulsion from the national territory, whereas the forcible transfer of population could occur wholly within the frontiers of one and the same State ... Transfers of population under the draft article meant transfers intended, for instance, to alter a territory's demographic composition for political, racial, religious or other reasons, or transfers made in an attempt to uproot a people from their ancestral lands. One member of the Commission was of the view that this crime could also come under the heading of genocide."

Im Mai 1995 hat die UNO Völkerrechtskommission erneut diesen Artikel 21 in zweiter Lesung diskutiert und angenommen. Vertreibungen werden als Verbrechen gegen die Menschlichkeit definiert.

Im Artikel 22(a) des draft Codes werden "Vertreibung und Kollektivstrafen gegen die Zivilbevölkerung" und im Artikel 22(b) werden "das Einbringen von Siedlern in ein besetztes Gebiet und Änderungen der demographischen Zusammensetzung eines besetzten Gebietes" als besonders schwere Kriegsverbrechen bezeichnet. Im Kommentar heisst es:

"establishing settlers in an occupied territory constitutes a particularly serious misuse of power, especially since such an act could involve the disguised intent to annex the occupied territory. Changes to the demographic composition of an occupied territory seemed to the Commission to be such a serious act that it could echo the seriousness of genocide."

Das Völkerrecht ist natürlich eine Sache, die politische Durchsetzbarkeit eines Rechtes eine ganz andere. Aber auch wenn Polen und die Tschechoslowakei z.Zt. kein Rückkehrrecht gewähren möchten, werden sie das Recht auf volle Freizügigkeit und Niederlassung zugestehen müssen, wenn sie die Mitgliedschaft in der europäischen Union anstreben. Ausserdem haben die Tschechische Republik und Polen die Europäische Menschenrechtskonvention ratifiziert und künftig werden sie nach diesem europäischen Standard gemessen werden.

Die deutschen Heimatvertriebenen hatten recht, als sie sich am 5. August 1950 im Kursaal zu Bad Cannstatt bei Stuttgart versammelten, um die Charta der deutschen Heimatvertriebenen zu unterschreiben. Sie wollten, auf das grosse Unrecht der Vertreibung hinweisen, und eine Mahnung aussprechen.

Dabei handelte es sich um eine gemeinsame Kundgebung der damaligen Spitzengremien der Vertriebenen, nämlich der Vereinigten Ostdeutschen Landsmanschaften und des Zentralverbandes der vertriebenen Deutschen. Im November 1949 hatten beide Gruppen die Verabschiedung einer sogenannten "Magna Charta der Vertriebenen" beschlossen. Für die Bekanntgabe wurde das dem 2. August -- dem Fünfjahrestag der Unterzeichnung der Potsdamer Beschlüsse -- nahegelegene Wochenende vom 5. zum 6. August 1950 gewählt.


Die Charta stellt eine ausserordentlich wichtige Erklärung dar, der zweifelsohne eine internationale Bedeutung als Dokument des Friedens und der Menschlichkeit zukommt. Dennoch fehlt es immernoch an einer angemessene wissenschaftlichen Würdigung der Charta (9)

.Beeindruckend ist nämlich, dass diese Charta keinen Forderungskatalog darstellt -- wie man dies von Interessenverbänden zur Genüge kennt: wir fordern, wir fordern, wir verlangen --, sondern dass die Charta zuerst von Pflichten der Heimatvertriebenen spricht, dann erst von Rechten, die sie in Anspruch nehmen.

Die Heimatlosen bezeichneten die Charta als ihr Grundgesetz und als unumgängliche Voraussetzung für die Herbeiführung eines freien, geeinten Europas. Man muss einige dieser Pflichten und Rechten in Erinnerung bringen:

1. Die "Heimatvertriebenen verzichten auf Rache und Vergeltung..."

Dies ist ein Kernpunkt der Charta.

2. Die Vertriebenen "werden jedes Beginnen mit allen Kräften unterstützen, das auf die Schaffung eines geeinten Europas gerichtet ist, in dem die Völker ohne Furcht und Zwang leben können".

Dies war in die Zukunft gerichtet -- und war richtig so. Inzwischen ist die Europäische Union Wirklichkeit geworden.

3. Die Vertriebenen "werden durch harte, unermüdliche Arbeit teilnehmen am Wiederaufbau Deutschlands und Europas".

Dies haben die Vertriebenen in beispielloser Weise getan. Sie haben zum Wirtschaftswunder in der Bundesrepublik entscheidend beigetragen. Zwar haben die Amerikaner durch Marshall-Plan-Gelder im Wert von 1.400 Millionen Dollar die finanzielle Voraussetzung geschaffen (10), doch auch die andere Voraussetzung, die der Menschen -- ihre Fähigkeit und vor allem ihr Wille -- war in höchstem Masse gegeben.

Erst nach den Pflichten folgen dann die Forderungen:

"dass das Recht auf die Heimat als eines der von Gott geschenkten Grundrechte der Menschheit anerkannt und verwirklicht wird"

Solange dieses Recht nicht verwirklicht ist -- so die Vertriebenen 1950 --,

"wollen wir aber nicht zur Untätigkeit verurteilt beiseite stehen, sondern in neuen geläuterten Formen verständnisvollen und brüderlichen Zusammenlebens mit allen Gliedern unseres Volkes schaffen und wirken".

Weiter verlangten die Heimatvertriebenen: gleiche Rechte als Staatsbürger, gerechte Verteilung der Lasten des Krieges, sinnvollen Einbau aller Berufsgrppen in das Leben des deutschen Volkes und tätige Einschaltung in den Wiederaufbau Europas.

Wie man sieht, liegt die grosse Bedeutung dieser Charta eben darin, dass sie ein Aktionsprogramm darstellt. Und was noch wichtiger ist -- die deutschen Heimatvertriebenen haben danach gehandelt.

Man muss sich in die Zeit und in die Situation zurückversetzen, in der dieses gewichtige Bekenntnis abgelegt wurde, um seine geschichtliche Tragweite messen zu können: Im Ausland befürchtete man -- und das mit gutem Grunde --, dass ein zerstörtes Deutschland, in dem Millionen arbeitslose Vertriebene hungerten, eine Zeitbombe werden könnte. Und in der Tat war es das Ziel Stalins, chaotische Zustände im Westen Deutschlands herbeizuführen, indem Millionen entwurzelter, besitzloser, verzweifelter Menschen in das zerstörte Land gedrängt wurden. Nach diesem Kalkül Stalins sollten diese Millionen von Menschen als soziale und politische Sprengkraft wirken. Diese Rechnung ist jedoch nicht aufgegangen. Im Gegenteil, die Vertriebenen wurden keine Terroristen. Sie integrierten sich erfolgreich in die Bundesrepublik Deutschland und trugen bedeutend zu ihrem Wiederaufbau bei.

Wenn wir heute über den Verzicht auf Rache und Vergeltung der deutschen Vertriebenen sprechen, sollten wir dabei bedenken, dass dieser Ausdruck des Verzichts nicht nur aus der Lage ihrer damaligen Ohnmacht heraus zu verstehen ist. Dieser Standpunkt ist beibehalten worden, als die Bundesrepublik wieder zu einer respektierten Wirtschafts- und politischen Macht aufgestiegen war, und weiterhin, als die Bundesrepublik und die Deutsche Demokratische Republik in eine Nation wiedervereinigt wurden. Damit wurde der Teufelskreis von Ungerechtigkeit und Rache gebrochen.

Zuweilen scheint das unermessliche Leid der Kriegsgeneration verdrängt worden und weitgehend dem Vergessen anheimgefallen zu sein. Die unerhört grossen Verluste der Vertriebenen dürfen aber weder ignoriert noch bagatellisiert werden. Künftige Generationen werden die Leistung erkennen und zu würdigen wissen, das die Vertriebenen das Opfer um des Friedens willen hingenommen und auf Rache und Revanche verzichtet haben.

In der neuen Weltordnung, die nach dem Ende des Kalten Krieges im Entstehen ist, braucht man vor allem historische Aufrichtigkeit und Objektivität. Es ist zu hoffen, dass die neue Generation von Historikern aus Polen, der Tschechischen Republik und der Russischen Föderation die Vertreibung der Deutschen in ihrer geschichtlichen Tragweite -- und Tragik -- und damit den eigenen Teil an Verantwortung erkennt und anerkennt. Gute Nachbarschaft verlangt gegenseitige Offenheit und die Bereitschaft, die eigenen Fehler zuzugeben.

Nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Systems und nach der Wiedervereinigung Deutschlands sind neue Prioritäten in Europa entstanden. Um den Frieden zu sichern, geht es vor allem darum, die Menschenrechte sämtlicher Minderheiten zu respektieren, nicht nur die der deutschen Minderheiten in Polen, der Tschechischen Republik, Rumänien usw., sondern aller ethnischen und religiösen Minderheiten wie z. B. in Rumänien, im ehemaligen Jugoslawien. Die sogenannten ethnischen Säuberungen dort sind genauso unmenschlich und verbrecherisch wie die Vertreibung der Deutschen am Ende des Zweiten Weltkrieges. Die Politiker haben anscheinend aus der Geschichte kaum gelernt.

Mich stört aber etwas: Es sind 50 Jahre seit der Vertreibung der Deutschen vergangen, und anstatt eine angemessene Würdigung des Geschehens zu geben, schweigt die Presse wie noch nie, als ob diese gewaltige Tragödie nicht geschehen wäre. Nicht nur die amerikanische, die britische, die französische, die polnische, die tschechische, die russische Presse schweigen -- auch die deutsche schweigt, oder spricht zu leise und zu ängstlich. Im Februar dieses Jahres wurde die Auslieferung des Buches "Auge um Auge" des amerikanischen Journalisten und Historikers John Sack gestoppt -- von seinem eigenen deutschen Verleger, dem Piper Verlag. Warum? Weil Sack's Buch angeblich "Zustimmung von der falschen Seite" bekommen habe. Nun, welche ist "die falsche Seite"? Und welcher Oberzensor bestimmt das? Man hätte gedacht, dass in einer demokratischen, pluralistischen Gesellschaft, in einer Republik von mündigen Bürgern, die Presse- und Informationsfreiheit gewährleistet sein sollte. Nun schreibt John Sack, selber Jude, dass am Ende des Krieges sich manche polnische Juden an den zu vertreibenden Deutschen rächten, etwa in den Lagern in Swientochlowice und Lamsdorf in Oberschlesien.

Ich kenne Sack seit 25 Jahren, als ich Student in Harvard war und er gerade ein Buch über den Vietnam Krieg und über den Prozess gegen Lt. William Calley wegen der My Lai Massaker publizierte. Ich habe Sack bei diesem Buche geholfen und das Manuskript gelesen. Es ist skandalös, dem deutschen Leser dieses Buch vorzuenthalten. Inzwischen höre ich von John Sack, der mich vor drei Wochen anrief, dass der Kabel Verlag in Hamburg das Buch tatsächlich angenommen hat. Abwarten.

Für mich als Amerikaner ist es kaum nachzuvollziehen, warum die Deutschen ihre eigene Geschichte so tabuisieren, dass es so schwierig ist, über die Vertreibung zu publizieren oder zu diskutieren, ohne schief angesehen zu werden -- aber nicht etwa von Amerikanern oder Briten sondern von Deutschen. Es sind deutsche Meinungsmacher, Politiker, Professoren, Gymnasiallehrer, die die Vertreibung der Deutschen tabuisieren, weil für sie diese Thematik nicht opportun sei, eben nicht "politisch korrekt". Ich darf fragen, warum manche Deutsche so wenig Respekt vor sich selbst zeigen? Heute sagen Deutsche "mea culpa, mea culpa", respektieren aber nicht die eigenen Opfer. Sie bitten überall um Verzeihung -- als wäre Deutschland eine Art Canossa Republik

geworden, eine Republik der Reue. Aber wenn man Moral zur Schau trägt, riskiert man, nicht sehr ernst genommen zu werden. Als nicht-Deutscher erlaube ich mir die Bemerkung: Man kann einem Volk nicht trauen, das sich nur selbst bezichtigt. Diese anormale Haltung wirkt auf viele Ausländer, nicht nur auf mich, als ein Ritual, eine Pflichtübung, unecht, überflüssig, schliesslich sogar als respektlos. Um glaubwürdig zu sein, muss man auch bereit sein, ähnliche Verbrechen zu verurteilen, überall in der Welt, auch dann, wenn die Opfer Deutsche waren oder sind.

50 Jahre nach Kriegsende und nach der Vertreibung der Deutschen brauchen die ehemaligen Kriegsgegner vor allem Wahrheit, denn nur auf dieser Basis kann Vertrauen gebaut werden. Seit Jahren besuchen Politiker in ganz Europa die Gedenkstätten an die Opfer des Nazismus. Ich halte es für moralish und politisch notwendig, auch eine Gedenkstätte fur die Opfer der Vertreibung zu bauen, etwa hier in Berlin, wo Millionen entkräfteter, kranker und halbverhungerter Vertriebener 1945-47 eingetroffen sind, nachdem sie ihrer Heimat beraubt worden waren. Das Denkmal an die Heimatvertriebenen sollte die Mahnung tragen: "Never Again".

Heute möchte ich die Worte Bundeskanzler Kohls in Erinnerung bringen, als er "Achtung vor jedem Schiksal" forderte. Er rief zu Toleranz bei der Einordnung dieses Tages auf, und rief zu Respekt für das Leiden von allen Opfern -- Leiden, das nicht zerredet werden darf.

In diesem Sinne erlauben Sie mir auf die dignitas humana, auf die Menschenrechte und Menschenwürde zurückzukommen. Die Vertreibung war nicht nur ein Megaverbrechen. Sie war ein moralischer Abgrund, denn sie verneinte alle Traditionen und Bräuche des Abendlandes. Somit sollen Sie die Vertreibung primär als ein menschenrechtsliches Problem ansehen. Und diejenigen, die heute die Vertreibung tabuisieren oder bagatellisieren, oder nicht wahr haben wollen -- sie können es mit den Menschenrechte nicht ernst meinen.

Zum Schluss möchte ich noch einmal die Leistungen der Vertriebenen würdigen, vor allem ihre Geduld. In ihrer Charta verzichteten die Heimatvertriebenen auf Rache und Gewalt; sie verpflichteten sich zum Aufbau Europas. Die Vertriebenen haben Wort gehalten. Ihre Forderung nach Verwirklichung ihres Rechtes auf die Heimat ist aber bis heute nicht erfüllt worden. Dennoch kann keiner bestreiten, dass dieses Recht auf die angestammte Heimat ein überaus Wesentliches ist, worauf die Vertriebenen weiterhin bestehen sollen. Nun ist es eine Aufgabe der deutschen und der europäischen Politiker, das Recht auf die Heimat für alle Opfer ethnischer Säuberungen zu fordern -- und die menschenverachtende Idee der "Bevölkerungstransfers" aus dem politischen Wortschatz zu streichen. Begehen wir also den 50. Jahrestag der Beendigung des Zweiten Weltkrieges mit der Hoffnung, dass Politiker und Journalisten allmählich zu dieser Ansicht gelangen, denn es geht ganz einfach um die praktische Anwendung unserer Verpflichtung für die dignitas humana.

Meine Damen und Herren, ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

1. Professor des Völkerrechts, Chicago. Autor der Bücher die Anglo-Amerikaner und die Vertreibung der Deutschen (Ullstein, Berlin. Englisch: Nemesis at Potsdam (University of Nebraska Press, $12.95); Die Wehrmacht Untersuchungsstelle (Ullstein, Berlin. Englisch: The Wehrmacht War Crimes Bureau, University of Nebraska Press, $15.95); Anmerkungen zur Vertreibung (Kohlhammer, Stuttgart. Englisch: A Terrible Revenge. The Ethnic Cleansing of the East European Germans 1944-1950, (St. Martin's Press, New York, $15.95), The German Expellees (Macmillan, London).

2. A. de Zayas "Die Vertreibung in völkerrechtlicher Sicht" in Dieter Blumenwitz (Hrsg.) Flucht und Vertreibung, Carl Heymanns Verlag, Köln, 1987, S. 239-258. Siehe auch de Zayas "Massenumsiedlungen und das Völkerrecht" in Abhandlungen zu Flüchtlingsfragen Bd. 10 (1975) S. 55-96; de Zayas, "The Illegality of Population Transfers and the Application of Emerging International Norms in the Palestinian Context", in the Palestine Yearbook of International Law, Bd. VI 1991, S. 17-55.

3. National Archives, Record Group 165, Records of the War Department TS OPD Message File, Telegramm No. S 28399 vom l8. Oktober 1945.

4. Victor Gollancz, Unser bedrohtes Erbe, Zürich, 1947, S. 156-57 (Englisch: Our Threatened Values, 1946, S. 96)

5. Foreign Relations of the United States, 1945, Vol II, S. 1290-92.

6. Dokument E/CN.4/Sub.2/1993/17

7. Dokument E/CN.4/Sub.2/1994/18

8. Report of the International Law Commission on the work of its forty-third session, General Assembly Official Records: Forty Sixth Session, Supplement No. 10(A/46/10), S. 265-268 (1992).

9. A. de Zayas, "Historischer und Völkerrechtlicher Überblick" in Reden zu Deutschland 1980, herausgegeben von der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, Bonn 1991, S. 16-22. Dr.Dr. Kurt Rabl veröffentlichte 1958-1965 ein mehrbändiges Werk über das Recht auf die Heimat. Die vielleicht beste Abhandlung zu diesem Thema veröffentlichte Professor Dr. Otto Kimminich (Regensburg) 1980 in der Schriftenreihe der Kulturstiftung der Deutschen Verriebenen. Ferner gibt es mehrere Dissertationen, z.B. 1962 die von Gerold von Braunmühl "Austreibungsverbot und Rücksiedlungsanspruch im geltenden Völkerrecht" (Mainz); 1966 die von Dieter Fischer "Die Aussichten für die Positivierung eines Menschenrechts auf die Heimat" (Würzburg); 1970 die von dem Franzosen Marc Lengereau "Le droit à la Heimat -- La notion de 'droit à la Heimat' dans la pensée allemande contemporaine et en droit positif" (Grenoble) und 1974 die von dem Holländer Frans du Buy "Das Recht auf die Heimat im historisch-politischen Prozess" (Utrecht).

10. A. de Zayas "European Recovery Program" in R. Bernhardt, Encyclopedia of Public International Law, Bd. 8, S. 207-211. Im übrigen war die Bundesrepublik Deutschland das einzige Land, das Marshallplangelder zurückzahlte.

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