Dankesrede zur Verleihung
des Kulturpreises der Landsmannschaft Ostpreussen
Leipzig, den 22. Juni 2002
Alfred de Zayas
Sehr geehrter Herr von Gottberg,
Sehr verehrte Frau Steinbach,
Sehr geehrter Herr Parplies, Herrn Kimmina
Meine sehr verehrten Damen, meine Herren !
„Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn
aus der Engel Ordnungen?“So fängt Rainer Maria Rilkes
erste der berühmten zehn Duineser Elegien an. Nun, wer hat
die Stimme der Vertriebenen in den letzten 57 Jahren überhaupt
vernommen?Wer hörte das Klagen der Mütter und Kinder Ostpreussens,
als sie am 30. Januar 1945 mit der Wilhelm Gustloff in die Tiefe
der Ostsee gezogen wurden ? Wer hörte denn die Stimme der Dichterin
Agnes Miegel, als sie Ostpreussen besang?Es war ein Land, -- wir
liebten dies Land,--
Aber Grauen sank drüber wie Dünensand.
Verweht wie im Bruch des Elches Spur
Ist die Fährte von Mensch und Kreatur,--
Sie erstarrten im Schnee, sie verglühten im Brand,
Sie verdarben elend in Feindesland,
Sie liegen tief auf der Ostsee Grund,
Flut wäscht ihr Gebein in Bucht und Sund,
Sie schlafen in Jütlands sandigem Schoss,--
Und wir Letzten treiben heimatlos,
Tang nach dem Sturm, Herbstlaub im Wind,--
Vater, Du weißt, wie einsam wir sind!“
Wer vernahm die Klage Tausender Unschuldiger, die Schreie der geschändeten
und ermordeten Frauen von Nemmersdorf und Metgethen, der Verschleppten
Ostpreussinnen, der Frauen aus Pommern und Schlesien, als sie elend
im Ural und in Sibirien umkamen? Wer hörte damals? Wer hört
denn heute die Stimme der von Agnes Miegel besungenen Heimatlosen?
Beschämend war und bleibt es, dass diese Mitmenschen, die so
viel gelitten hatten und endlich in den Westen gelangt waren, allzuoft
als unwillkommene Fremde empfangen wurden.
Freilich, Deutschland lag in Trümmern, war ausgebombt. Millionen
Männer waren in Kriegsgefangenschaft. Und dann: in diese Misere
kamen die Vertriebenen -- auch noch.Diese verjagten Menschen, --
sie mussten neu anfangen, sich ein neues Heim aufbauen. Aber wer
hörte sie an, als sie das seelische und allermenschlichste
Bedürfnis empfanden, über ihr Leiden zu reden? Lange,
sehr lange war keine Empathie für sie da.Wie ein Leichentuch
fiel das Tabu flächendeckend über die ganze Tragödie
der Vertreibung, und man durfte das Tuch nicht heben. Aber, es waren
nicht nur die Täter, die Vertreiberstaaten, die diese Schande
mit dem Bahrtuch des Vergessens bedecken und verschliessen wollten.
Es waren auch die Bundesdeutschen, die die Vertriebene oft als „Ewiggestrige“
und „Revanchisten“ beschimpften, als diese über
ihre geliebte Heimat – Landschaften und Seen, Wälder
und Elche -- schreiben und sprechen wollten.Generationen von Vertriebenen
und ihren Nachkommen haben gelebt, wieder aufgebaut, ihre Kultur
bewahrt und neugeschaffen. Lange haben Sie ihr Leid und ihre Klage
schweigend mit sich getragen. Sie mussten die Ungerechtigkeit erleben,
dass über das Leid von anderen gesprochen wurde, immer wieder
und immer wieder, während dem eigenen Leiden galten nur Schweigen
und Tabuisierung -- als ob die deutschen Vertriebenen gar nicht
gelitten hätten, als ob Opfer in separaten Kategorien von politisch
korrekten und politisch inkorrekten Opfern aufgeteilt und abgeurteilt
werden könnten.Gross war die Gefahr, dass die Entwurzelung
der Vertriebenen sie zu geistig Enterbten und Entleerten machen
würde. Und dennoch schrieben und sprachen sie. Die grossen
Treffen der Vertriebenen, auch die wachsende Vertreibungsliteratur
haben bewiesen, und sie veranschaulichen heute noch, dass Heimat
etwas Wesentliches für den Menschen ist, dass das Recht auf
die eigene Heimat notwendigerweise ein fundamentales Menschenrecht
bildet, welche eine Voraussetzung für die Ausübung vieler
anderen Rechte darstellt, und deren Genuss überhaupt erst ermöglicht.
Dies bemerkte ja der erste UN-Hochkommissar für Menschenrechte,
Jose Ayala Lasso, in seinem Grusswort vor den Vertriebenen am 28.
Mai 1995 in der Paulskirche zu Frankfurt.Nun denke ich an die neunte
Duineser Elegie, wo Rilke die Erde besang, Erde, du liebe, ich will.
Oh glaub, es bedürfte
Nicht deiner Frühlinge mehr, mich dir zu gewinnen –Und
in der zehnten Elegie apostrophierte Rilke die Zeit, aber auch jene
Stelle, Siedlung, Lager, Boden, Wohnort. Ich würde noch hinzufügen
-- jene Seen, die Flüsse, das Rauschen des Windes durch die
Wälder, die leisen Wellen in Weizenfeldern, das besondere Licht
des Himmels, die vertrauten Düfte der Heimat.Rilke war bekanntlich
Prager Deutscher – also Ostdeutscher, wie die Ostpreussen
auch. Die jüngste Vertreibungsliteratur Ostpreussens hat auch
viele Dichter hervorgebracht -- Agnes Miegel, Siegfried Lenz, Arno
Surminski, Marion Gräfin Dönhoff, Else Stahl, Ernst Wiechert
und natürlich Günther Grass aus dem westpreussischen Danzig.
Die Kulturstiftung der Deutschen Vertriebenen hat literarische Zeugnisse
von Flucht und Vertreibung gesammelt und veröffentlicht. Auch
der Ostdeutsche Kulturrat und die Künstlergilde haben eine
bedeutende Rolle bei der Sicherung und Vermittlung dieser literarische
und künstlerische Zeugnisse gespielt.„Warum erst jetzt?“
… Weil ich wie damals, als der Schrei übern Wasser lag,
schreien wollte, aber nicht konnte … „ So beginnt der
neue Roman von Günther Grass, Im Krebsgang. So werden heute
endlich die Schreie Rilkes vernommen, die die Schreie der Ertrinkenden
im eiskalten Wasser der Ostsee auch sind.Grass bemerkt hinzu: „Niemals
… hätte man über so viel Leid, nur weil die eigene
Schuld übermächtig und bekennende Reue in all den Jahren
vordringlich gewesen sei, schweigen…. Dieses Versäumnis
sei bodenlos…“. Aber, meine Damen und Herren, wenn Frageverbote
und Denkverbote dieses Schweigen bestimmten, wer hat eigentlich
die Tabus errichtet, und weshalb hat man solche Tabus hingenommen?
Man kann es wohl begrüssen, dass nach dem Buch von Günther
Grass, die Beschäftigung mit der Thematik sowie mit den individuellen
Tragödien allmählich gesellschaftsfähig werden. Endlich
wird die grosse Geschichte der Vertreibung von den deutschen Medien
zur Kenntnis genommen. Vielleicht wird sie noch zu grossen Romanen
inspirieren etwa im Stil Margaret Mitchells Vom Winde Verweht.Aber
gewiss wurde die Thematik nicht erst durch Günter Grass oder
gar durch die bundesdeutschen Neulinken entdeckt. In der Tat wurde
sie von vielen ernstzunehmenden Historikern wie Andreas Hillgruber,
Gotthold Rhode, Theodor Schieder, Hans Rothfels und Werner Conze
bereits in den fünfziger und sechziger Jahren bearbeitet. Sie
wurde auch von Menschenrechtsgruppen angenommen – etwa von
Tilman Zülchs Gesellschaft für bedrohte Völker und
von der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte. Aber
nie wurde sie ausreichend in der breiten Öffentlichkeit diskutiert.
Und es wurde nicht ausreichend darüber reflektiert. Vertreibung
bleibt auch heute ein Stiefkind der Geschichtsschreibung und ein
Stiefkind des gesellschaftlichen Bewusstseins.Nun muss man das tun
– was jahrzentelang verpasst wurde, und deshalb jetzt umso
schwieriger ist – nämlich darüber an den Schulen
und Universitäten lehren. Und nicht nur im Geschichtsunterricht
– denn die Vertreibung der Deutschen hat kulturelle, soziologische,
psychologische, juristische, und menschenrechtliche Dimensionen
… Man soll Agnes Miegels Dichtung in ihrer Vielfalt studieren.
Auch Alexander Solschenizyns Gedicht „Ostpreussische Nächte“,
die für mich eine überaus grosse Bedeutung als Dokument
der Unmenschlichkeit und zugleich der Menschlichkeit besitzt, soll
in den Schulen gelehrt werden.
Man bedauert aber, dass die Anerkennung des Leidens der Vertriebenen
für die Erlebnisgeneration reichlich spät kommt. Diese
Generation, die so viel hat ertragen müssen, hat auf eine angemessene
Würdigung ihrer Leistung Jahr um Jahr vergeblich gewartet.
Sie ist allmählich und ganz still von uns gegangen. Dies –
finde ich -- ist eine bleibende und fortwährende gesellschaftliche
Schande. Jene Generation, die vertrieben wurde, die aufbaute, die
über das eigene Leiden schweigen musste, sie ist kaum mehr
da, um eine späte Anerkennung – falls sie endlich kommen
sollte - entgegenzunehmen. Persönlich möchte ich eine
Frau nennen, die mich in die Thematik der Vertreibung gewissemassen
einführte – Frau Ursula Schlenkhoff, geborene Ausländer,
eine glänzende, kluge Frau aus Königsberg, die Ehefrau
des Rechtsanwaltes Friedrich Wilhelm Schlenkhoff aus Herne, bei
dem ich im Sommer 1969 ein Praktikum absolvierte. Sie erzählte
mir über Ostpreussen, über den Tod ihres jungen Bruders,
über die Vertreibung. Den menschlichen Einfluss, den Frau Schlenkhoff
auf mich ausübte, spüre ich heute noch. Sie war eine Frau
mit dem Sinn für Verhältnismässigkeit, für den
griechischen „Metron ariston, meden agan.“ Sie starb
bereits im Jahre 1976 – aber ich denke oft an sie –
und an Ihren Mann, durch den ich deutscher Corpstudent beim Corps
Rhenania zu Tübingen wurde, als ich mit einem Fulbright Stipendium
nach Deutschland kam. Hier möchte ich auch meine zahlreichen
Begegnungen mit Professor Hans Rothfels in Tübingen erwähnen,
der als Mitherausgeber der Dokumentation der Vertreibung eine für
die Zukunft entscheidende Sammlung von Erlebnisberichten und Dokumenten
schuf.Auch meinem Mentor, Professor Dietrich Rauschning vom Institut
für Völkerrecht der Universität Göttingen soll
heute gedankt werden, denn ohne ihn wären meine Bücher
„Die Anglo-Amerikaner und die Vertreibung der Deutschen“
und „Die Wehrmacht-Untersuchunsstelle“ gar nicht zustande
gekommen. Beide wurden geschrieben, als ich wissenschaftlicher Assistent
bei ihm war. Von ihm lernte ich auch vieles über ostpreussische
Kultur, Anständigkeit und intellektuelle Redlichkeit. Auch
in Göttingen nützte ich die Forschungsmöglichkeit
des Göttinger Arbeitskreises, und lernte viele herzliche Ostpreussen
kennen, wie Dr. Detlev Queisner und seine Gemahlin, deren Gastfreundschaft
ich öfter genoss, und durch die ich die völkerverbindenden
Jahrestreffen am Rosengarten zu Göttingen wiederholte Male
mitmachte.
Nun bedeutet für mich „ostpreussische Kultur“ nicht
nur die von den Vertriebenen weiter erschaffene und getragene Kultur.
Für alle Deutschen und Nicht-Deutschen wird Königsberg
stets mit dem Namen Immanuel Kant verbunden bleiben. Wir denken
auch an Johann Gottfried von Herder, Otto Nicolai, E.T.A. Hoffmann,
Lovis Corinth und natürlich an die Bildhauerin Käthe Kollwitz,
deren „Pieta“ als zentrale und einzige Skulptur in der
Neuen Wache zu Berlin weint -- und wacht. Dort lesen wir:„Wir
gedenken der Unschuldigen, die durch Krieg und Folgen des Krieges
in der Heimat, die in Gefangenschaft und bei der Vertreibung ums
Leben gekommen sind.“Ja, Käthe Kollwitz, die grosse Künstlerin,
Pazifistin und Königsbergerin hat die Schreie der Kriegsopfer
erhört. Wir alle gedenken dieser Opfer. Aber wann, wann werden
der Engel Ordnungen der grossen Weltpolitik die Klage der deutschen
Vertriebenen anerkennen und das furchtbare Verbrechen gegen die
Menschlichkeit beim Namen nennen? Ich meine, das moralische Gesetz
gebietet es halt.Als Nicht-Deutscher bin ich dankbar, dass ich die
deutsche Kultur – auch die ostpreussische -- kennenlernen
durfte. Ich schätze sie und fühle mich davon wesentlich
beeinflusst und bereichert. Ich bin vor allem dankbar, dass ich
auch ihr Leid in meinem Herz mittragen durfte – in Ehrfurcht
und Respekt.Mit einem Gedanken Immanuel Kants möchte ich nun
schliessen:So lesen wir in seiner Kritik der praktischen Vernunft
(1788), und früher einmal auf der Gedenktafel an der Schlossmauer
in Königsberg:„Zwei Dinge erfüllen das Gemüt
mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter
und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der
bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir“.Dies
gilt, meine Damen und Herren, für uns alle.Ich danke Ihnen.
Alfred de Zayas
Dr.iur. (Harvard), Dr.phil. (Göttingen)
General-Sekretär, Centre P.E.N. Suisse romande
Lieferbare Bücher:
DieAnglo-Amerikaner und die Vertreibung der Deutschen, Ullstein
Taschenbuch, München 2000
(Englisch: Nemesis at Potsdam, Picton Press, Rockport, Maine)
Anmerkungen zur Vertreibung, Kohlhammer, Stuttgart, 1993
(English: A Terrible Revenge, the Ethnic Cleansing of the East European
Germans, 1944-1950, St. Martin’s Press, New York)
Die Wehrmacht Untersuchungsstelle, Universitas, München, 2001
(Englisch: The Wehrmacht War Crimes Bureau, Picton Press, Rockport,
Maine)
Heimatrecht ist Menschenrecht, Universitas, München, 2001
(Englisch: in Vorbereitung)
Artikel:
Das Recht auf die Heimat, Ethnische Säuberungen, und das Internationale
Tribunal für das Ehemalige Jugoslawien, im „Archiv des
Völkerrechts“, 1997.
(Englisch: The Right to One’s Homeland, Ethnic Cleansing
and the International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia,
in Criminal Law Forum, 1996.) |