Alfred de Zayas
Alte Zwirnerei, Bazenheid, 22. November 2008
René Rilke als Heimatdichter:
Von bömischer Heimat bis Waliser Wahlheimat
Gott war guter Laune. Geizen
ist doch wohl nicht seine Art.
Und er lächelte: da ward
Böhmen, reich an tausend Reizen.
… Gab den Burschen all, den braven,
In die rauhe Faust die Kraft,
In das Herz – die Heimatlieder.
“Land und Volk” so heist dieses Heimatgedicht, Nummer 25 aus dem Zyklus neunzig lyrischer Gedichten, denen der Dichter den Titel “Larenopfer” gab – ein Titel, der bezeichnend ist, denn die Laren galten im alten Rom als die Schutzgottheiten des Hauses und der Heimat.
Nach der inneren Musik, Stimmung, Bildhaftigkeit handelt es sich hier um eine geradezu klassische Heimatdichtung, denn der junge Rilke war von seiner Heimat berauscht, von ihrer Geschichte, von ihrer Literatur, von den Kirchen, Brücken, Schlosser, Gärten, Parks, vom Hradschin und von der Moldau, vom lieblichen Böhmen, - von einem Land, welches er auf seinen Wanderungen durchstreifte, um Wiesen und Felder, Blumen und Bäume, die Düfte, und den Himmel zu besingen.
Seine Gefühle hat er in einfacher Dichtung zum Ausdruck gebracht, schön gereimt und mit vielen Alliterationen. Gewiss handelt es sich um Jugenddichtung, gewissermassen um Gehversuche in der Poesie, zweifellos aber um die Schritte eines besonders begabten jungen Mannes von 19 Jahren voller Enthusiasmus, Beobachtungsgabe -- und erfrischender Naivität. Einige Kritiker meinen freilich, diese Frühgedichte seien neuromantisch-schwach, seien jugendstilfeiernde klimbimartiger Kitsch.
Dennoch lohnt es sich sehr, die Larenopfer – diese 90 Gedichten über Rilkes Geburts- und Vaterstadt Prag, und über sein Heimatland Böhmen zu entdecken. Dieser bisher vernachlässigte Sammlung dient als eine sanfte Einführung in das grosse Werk Rilkes. Zwar ist der metaphysische Dichter der Duineser Elegien hier wohl kaum zu erkennen, jedoch entdecken wir den Heimatdichter, der sein künstlerliches Leben mit diesen Lieder begann, um sein erstaunliches Schaffen mit mehr als 400 Gedichten in französischer Sprache über die schweizerische Landschaft desWallis, seine Wahlheimat, zu beenden.
Geboren wurde Rilke um Mitternacht am 4 Dezember 1875 im Zentrum Prags – ein Siebenmonatskind -- höchstwahrscheinlich im Haus seiner mütterlichen Grosseltern, den Entzes, deren Palais auf der Herrengasse 8 stand – heute die Panska ulice. Seine schwangere Mutter war am jenem Tage zu ihren Eltern gegangen – den Weg zu Fuss von ihrer Wohnung um die Ecke in der Heinrichstrasse, welche jetzt Jindrinska heisst. Da es sturmte und zu Schneewehen kam, wagte sie wahrscheinlich den Rückweg nachhause in der Nacht nicht mehr. Als Geburtsort ist jedoch wohl die Heinrichstrasse eingetragen.
Rilke wurde in der katholischen Heinrichkirche am 19. Dezember 1875 getauft – und zwar unter dem Namen René, Karl, Wilhelm, Johann, Josef, Maria, und nicht unter dem uns heute geläufigen Namen Rainer.
Damals war Prag die drittgrösste Stadt in der Doppelmonarchie Österreich-Ungarns – eine Stadt, in der die Deutschen bzw. die Österreicher mit etwa einem Viertel der Bevölkerung die adlige und bürgerliche Oberschicht stellten. Die Stadt konnte sich rühmen, auch die Heimat anderer grosser Schriftsteller deutscher Sprache – Franz Kafkas (1883-1924) und Franz Werfels (1890-1945) beispielsweise – zu sein.
Böhmen war die Heimat des Reformators Jan Hus (1369-1415), des Komponisten Bedrich Smetana (1824-1884 – wir alle kennen seine Tondichtung « Die Moldau » aus der längeren musikalischen Betrachtung « Má Vlast » , meine Heimat!). Böhmen war die Heimat des Komponisten Antonin Dvorak (1841-1904), der auch auf Reisen ging und die grosse Symphonie der Neuen Welt komponierte.
Was bedeutet nun Heimat ? Dieser Begriff bedeutet Geborgenheit, er beinhaltet Seele, Kultur, Sprache, Geschichte, Erinnerung – also Identität. Zwar existiert der Begriff in anderen Sprachen, z.B. auf französich gibt es die « terre natale » oder den « foyer », auf Spanisch wird der Begriff der Patrie – patria – aus dem lateinischen pater, also Vaterland -- gebraucht. Auf Englisch verwenden wir etwa das Wort « homeland ». Aber diese Übersetzungen enthalten nicht alle die Nuancen des deutschen Begriffes. Wenn wir die tiefe Feinfühligkeit Rilkes kennen, wäre es ja kaum denkbar, wenn er sich zur Heimat nicht geäussert hätte.
Rilke liebte die Geheimnisse der magischen Kaiserstadt an der Moldau, so reich an Geschichte, Geschichten und Persönlichkeiten. Rilkes Wähnen wanderte in der Vergangenheit Böhmens, in den Tagen des Fenstersturzes, des Dreissigjährigen Krieges (1618-1648), des grossen Feldmarschalls Wallenstein, die ihn so sehr imponierte.
Rilke schätzte seine Erinnerung an die Heinrichsgasse, deren „blauen Salon“ er sein Leben lang in sich trug:
„Der Erinnrung ist das traute
Heim der Kindheit nicht entflohn,
wo ich Bilderbogen schaute
im blauseidenen Salon...“
Allerdings stand er seiner Mutter Sophie nicht allzu nahe und auch seine Beziehung zum Vater Josef war eher formell, nicht herzlich. Seine Eltern haben sich bereits 1884 geschieden, als René 9 Jahre alt war.
Der einsame Junge – einziger Sohn der Familie, denn seine ältere Schwerter war bereits verstorben, ehe Rene geboren wurde -- wuchs ziemlich allein auf, immer träumerisch, in seiner eigenen Welt lebend. Bereits mit neun began er mit dem Dichten – spielerisch alles ausprobierend – es war eben sein Spiel, -- sagen wir vielleicht, wie heutzutage die Jungen die Videokonsole bedienen.
Er veröffentlichte sein erstes Gedicht im Alter von 15 Jahren und seine erste Gedichtssammlung in 1894 unter dem Titel « Leben und Lieder », im Alter von 18 Jahren also.
Während dieser erste Gedichtszyklus ziemlich unausgegoren war und Rilke selbst ihn später aus seinem Werk verbannen wollte, zeigen die « Larenopfer » bereits weitaus mehr Reife. Sie wurden im Prager Domenicus Verlag zu Weihnachten 1895 veröffentlicht. Er machte sie sich sozusagen zur Feier seines 20. Geburtstages zum Geschenk
Das Wort Heimat kommt 7 mal in den « Larenopfern » vor. Ein anderer Begriff, geistig verwandt mit Heimat kommt sogar zehnmal vor – das Wort « Volk ». In der Tat ist der ganze Zyklus eine Hymne an seine Heimat und an die dort lebenden Menschen – keineswegs nur an jene seiner deutsch-österreischischen Mitbürger, sondern auch an die Tschechen, Slovaken, Juden und Zigeuner, die dort ihr Dasein entfalteten.
Alle Anwesenden kennen sicherlich Rilkes zauberhaft schönes und doch einfaches Heimatgedicht Volksweise –
Mich rührt so sehr
böhmischen Volkes Weise,
schleicht sie ins Herz sich leise,
macht sie es schwer.
Wenn ein Kind sacht
singt beim Kartoffeljäten,
klingt dir sein Lied im späten
Traum noch der Nacht.
Magst du auch sein
weit über Land gefahren,
fällt es dir doch nach Jahren
stets wieder ein.
René war durch und durch Österreicher – dank seiner Ausbildung in der Piaristen Schule auf der Herrengasse 1, im Zentrum Prags, und in der Militärakademie in Österreich, durch die Kultur seiner Eltern und Grosseltern. Jedoch war René kein engstirniger Chauvinist. Ganz im Gegenteil – denn er achtete alle Menschen und schätzte ihre guten Eigenschaften – wie er sich tolerant und kosmopolititisch in seinem Gedicht « In Dubiis » offenbarte. In diesem Gedicht öffnet er sich allen Kulturen und verwirft den engen Nationalismus:
Es dringt kein Laut bis her zu mir
Von den Nationen wildem Streite,
Ich stehe ja auf keiner Seite:
Denn Recht ist weder dort noch hier.
…
Der erscheint mir als der Grösste
Der zu keiner Fahne schwört
Und, weil er vom Teil sich löste
Nun der ganzen Welt gehört…
Daraus erkennen wir den jungen Pazifisten. Aber er liebt doch schliesslich seine Heimat, und endet sein Gedicht wie folgt :
Ist sein Heim die Welt: es misst ihm
doch nicht klein der Heimat Hort;
denn das Vaterland, es ist ihm
dann sein Haus im Heimatsort.
In den « Larenopfer » feiert René die alten Häuser Prags, vor allem das Haus seiner Grosseltern, auch die Wohnung seiner Eltern auf der Heinrichgasse, und die Wohnung seiner Tante auf der Wassergasse, alle im Zentrum Prags gelegen, in der Nähe des Staromesta Namesti. Er beschreibt mit Nostalgie die engen Strassen der Kleinseite, der gemütlichen Mala Strana:
Alte Häuser, steilgegiebelt,
Hohe Türme voll Gebimmel,
In den engen Höfe liebelt
Nur ein winzig Stückchen Himmel.
Und auf jedem Treppenpflocke
Müde lächelnd – Amoretten ;
Hoch am Dache um barocke
Vasen rieseln Rosenketten.
Spinnverwoben ist die Pforte
Dort. Verstohlen liest die Sonne
Die geheimnisvollen Worte
Unter einer Steinmadonne.
Er besingt die Fontänen Prags und bedauert die Modernität. So in seinem Gedicht Brunnen:
Ganz verschollen ist die alte,
holde Brunnenpoesie,
da aus Tritons Muschelspalte
eine Klare Quelle lallte,
die den Gassen Sprache lieh.
Abends bei dem Röhrenkasten
sammelte sich Paar um Paar,
weil der Quelle lieblich glasten
Und ihr Laut der tiefgefassten
Neigung süsses Omen war.
Was war geschehen? Warum schweigt der Gott? Rilke übt nämlich Kritik an die Moderne. Tatsächlich ist es zu bedauern, dass wegen der modernen Wasserversorgung die Mädchen nicht mehr brauchten, zum Brunnen zu gehen, um Wasser für den Haushalt zu holen. Es mag bequem sein, Wasser zu Hause aus der Hahn zu kriegen, doch Rilke protestiert im Namen der Brunnenromantik, denn die Paare hatten deutlich weniger Gelegenheit, sich beim Brunnen zu treffen.
Rilke besingt die vielen Parkanlagen und beschreibt die Prager Blumenpracht :
So im Gedicht Frühling:
Die Vögel jubeln – lichtgeweckt—
Die blauen Weiten füllt der Schall aus,
im Kaiserpark das alte Ballhaus
ist ganz mit Blüten überdeckt.
…
Da naht ein Lüftchen, fegt im Tanz
hinweg das gelbe Blattgeranke
Und legt um seine Stirn, die blanke,
den blauenden Syringenkranz.
Rilke besingt auch die Theater Prags, wo zwei seiner frühen Theaterstücke uraufgeführt wurden, beide mit heimatlichen böhmischen Themen: „Jetzt und in der Stunde unseres Absterbens“, und „Im Frühfrost“-- von einer Berliner Truppe am Deutschen Volkstheater gespielt, sogar mit Max Reinhardt.
Als andere Beobachter bereits festgestellt haben, schaffte René mit seinen Larenopfer eine Art literarisches Vade mecum für Prag, und so begleitet er den Besucher Prags mit Poesie zu den Sehenswürdigkeiten. Er beschreibt die Moldau und ihre vielen Brücken, geschmückt mit Statuen von Heiligen – die Jungfrau Maria, Wenzel, Neppomuk – den Hradschin auf dem Laurenziberg, so viele Kirchen und Kloster und sogar Friedhöfe – den Wohlschan, die Malvasinka, den jüdischen Friedhof mit dem Grab von Rabbi Löw. René interessierte sich intensiv für die Geschichte Böhmens, vor allem für die Zeit des Habsburger Kaisers Rudolf II (1552-1612), für den Fenstersturz aus dem Hardschin, mit dem der 30-Jähriger Krieg (1618-1648) begann.
Im Gedicht « Im Dome » malt er für uns die reiche Veitskathedrale aus, mit dem subtilen Spiel des Lichtes von bunten Fenstern, Kerzen, und Lampen. Diese grossartige Kathedrale bietet ihm Gelegenheit, Kontraste aufzuzeichnen und dabei eine Sozialkritik zum Ausdruk zu bringen :
Und im Eck, wo Goldgeglaste
Niederhangt in staubgen Klumpen,
Steht in Schmutz gehüllt und Lumpen
Still ein Kind der Bettlerkaste.
Von dem ganzen Glanze floss ihm
In die Brust kein Fünkchen Segen …
Zitternd, matt, streckts mir entgegen
Seine Hand mit leisem: ‘Prosim!’
René zeigt menschliche Sympathie für den jungen Bettler, wie er auch Zuneigung für die Opfer in anderen Gedichten an den Tag legt. Das Betteln war nämlich eine häufige Erscheinung in den reichen Kirchen Prags. Sympathie und Melancholie ja, jedoch nicht Mitleid, und auch keine Überheblichkeit und keinen Snobismus zeigte er dabei. Gerade dieses Sozialinteresse ermutige ihn dazu, eine kostenlose literarische Zeitschrift zu produzieren, Die Wegwarte, von der er drei Nummern herausgab und in Spilatern und anderen öffentlichen Einrichtungen verteilte.
Der Dichter liebte die Landschaft, die Prag umgab, -- wo er viele Urlaube mit den Eltern, Tanten und Kusinen verbrachte. Er liebte die deutschbesiedelten Städten und Dörfer Böhmens und Mährens. Schon mit drei und ein halb Jahren hatte er einen Sommer in Konstantinsbad verbracht. In 1886, im Alter von zehn Jahren, wanderte er in der Umgebung von Bad Wartenberg, in der Nähe der Burg Groß Rohosetz (zámek Hrubý Rohozec -Sedmihorsky). Als gestandener Schriftsteller hat er im Jahre 1899 diese Gegend als Rahmen für seinen Roman Teufelsspuk gewählt. Im Sommer 1892 verlebte René schöne Urlabswochen im Norden Böhmens, bei Schönfeld und Böhmisch Kamnitz in der Nähe von Tetschen. Als er die Ruinen der Burg besichtigte, liess er sich durch die alte Erde, die Wälder, die Täler inspirieren. Diese Eindrucke fanden ihren Niederschlag bereits in seinem ersten Gedichtszyklus « Leben und Lieder ». Er liebte es vor allem, mit seiner Cousine Helena von Kutschera-Woborsky spazieren zu gehen. Helena war die Tochter seiner Tante Gabriele Rilke, einziger Schwester seiners Vaters Josef Rilke. In der Tat lebte René seit 1892 bei seiner Tante Gabriele, nachdem seine Eltern sich hatten scheiden lassen und seine Mutter Phia nach Wien gezogen war. Er wanderte mit Helena durch die Felder von Smichow, am linken Ufer der Moldau - bis hoch zur Villa Koulka, wo sich ein volkstümliche Restaurant befand.
Bunt und selig, Bursch und Holka,
Glück und Sonne im Gesicht!
Sommertage auf der „Golka“
und die Luft war voller Licht...
Hier sehen wir den heranwachsenden René voller Begeisterung und Freude. Auf der Villa Koulka konnte er nicht nur saubere Luft sondern auch Licht und Leben einatmen, und die glücklichen Gesichter der jungen Mädchen -- die Holkas - bewundern. Mit demselben Enthusiasmus schreibt er über einen Sonntag im Dorfe, im Restaurant Kravin in Vinohrad bei Prag, dessen Terrasse stets belebt war
… des Burschen Hand, so hart von Schwielen,
drück die des blonden Mädchen traut:
bierfrohe Musikanten spielen
ein Lied aus der „Verkauften Braut“
Obwohl René dem deutschen Kulturkreis angehört, liebt er auch die tchechische Kultur und ihre Musik -- Die Verkaufte Braut, Prodaná Nevestá, ist die berühmteste Oper des Bedrich Smetana, ein folkloristisches Werk, das das Landleben und die Traditionen der Tschechen würdigt, eine Heimatoper, die ihre Urauffühgrung 1866 in Prag erlebt hatte, und die René besonders schätzte.
René hat neun Jahre tschechish gelernt – zunächst in der Piaristen Schule, und dann noch während seiner Jahre in der Militärschule in St. Polten und in Mährisch Weisskirchen. Er erhielt die besten Noten in tschechisch und seine Kontakte mit den tschechischen Menschen und ihrer Kultur waren intensiv. Er begeisterte sich für die Heimatdichtung des Jaroslav Vrchlický und vor allem von Josef Kajetán Tyl. Wir bemerken, dass im Tschechischen der Begriff Heimat mit dem Wort domov ausgedruckt wird, und dass die tschechische Nationalhymne eben Kde domov muj heisst (Wo ist meine Heimat?) nach einem Gedicht von Josef Kajetán Tyl (1808-1856).
In den Larenopfern entdeckt man, dass Rilke sich slavische Worte bedient, und gerne slavische Themen zu Gegenstand seiner Gedichte macht, so in “Trotzdem”, wo er auf die Legende des Dalibor bezug nimmt. Zweimal weist er uns auf das Lied « Kde domov muj » -- im letzten Gedicht des Zyklus, “Das Heimatlied”, und dann auch im historischen Gedicht « Kajetán Tyl », wo er den Dichter Tyl feiert, der sein Lebenlang im Armut lebte, und doch seine Heimat Böhmen über alles liebte. Rilke kommentiert:
« Wen die Musen lieben,
dem gibt das Leben nicht zuviel »
Im Sommer 1895 besuchte René die « Tschechoslawische Ethnographische Ausstellung » die vom 16. Mai bis zum 28. August 1895 im Baumgarten, (heute Parc Stromovka) im Norden Prags veranstaltet wurde. Die kleine Bude Kajetán Tyls wurde rekonstruiert, dort, wo Tyl Kde domov muj geschrieben hatte. Sogar Kaiser Franz Josef war aus Wien gereist, um die Ausstellung zu besuchen.
Im Gedicht Das Volkslied feiert René die Begabung der böhmischen Jugend
Die Liebe und die Heimat Schöne
drückt ihm den Bogen in die Hand,
und leise rieseln seine Töne
wie Blütenregen in das Land.
René beschreibt auch gern manche Spaziergänge mit seiner Jugendliebe Valérie von David-Rohnfeld, Nichte des romantischen tschechischen Dichters Julius Zeyer (1841-1901). Mit Vally geht er auf Entdeckungstouren durch die Prager Umgebung. Mit ihr nimmt er den Moldaudampfer, besucht Kirchen und Kloster, etwa die Kirche des Sankt Gallus in Königssaal und das Zbraslav Kloster aus dem 16. Jahrhundert, auch die Kirche in Slichow aus dem 13. Jahrhundert, den Heiligen Philip und Jakob gewidmet.
In seinem Gedicht « Unser Abendgang » beschreibt er eine Wanderung im Nusletal unter dem milden Licht des Spätnachmittags, als er und Vally bis zum Karlshof Kloster kletterten. Der Onkel Julius, der René gewissermasser unter seine Fittiche genommen hatte, gab ihm seine drei Legenden des Kruzifix – in tschechischer Sprache. Bei Retourkoutsche widmete René ihm ein Gedicht:
Dein Volk tut recht, -- nicht voll von wahngeblähter
Vergangenheit, die Hand im Schooß zu tragen,
es kämpft noch heut und muß sich tüchtig schlagen,
stolz auf sich selbst und stolz auf seine Väter.
Obwohl katholisch erzogen, war René dem Protestantismus aufgeschlossen gegenüber. So beschäftige er sich mit den Gedanken des Reformators Jan Hus, der vom Konstanzer Konzil 1415 als Ketzer verurteilt und verbrannt wurde.
Der, den das Gericht verdammte,
war im Herzen tief und rein,
überzeugt von seinem Amte,
und der hohe Holzstoss flammte
seines Ruhmes Strahlenschein.
Für einen jungen Österreicher seiner Zeit hatte Rilke hier in poetischer Form offen provoziert, -- hatte sich, um es im heutigen Jargon auszudrücken, politisch inkorrekt verhalten.Er strebte nämlich eine Symbiose der Deutschen und Tschechen in Böhmen und Mähren an. Auch nachdem René Prag verlies, um sein Studium in München fortzusetzen, bediente er sich tschechischer Themen, etwa in seiner Kurzgeschichte Frau Blahas Magd, die er 1898 in München verfasste. Ein Jahr danach veröffentliche er « Zwei Prager Geschichten », die erste, König Bohusch, ein Kriminalroman mit einer gewissen Kafkaesken Atmosphäre. In der zweiten Geschichte, Die Geschwister, beschrieb Rilke das Leiden einer armen tschechischen Familie, die vom Lande kommend, sich in der grossen Stadt niederlässt. Er bereitet uns ein “happy end”, denn das junge Mädchen aklimatisiert sich gut, lernt deutsch beim Apotheker und dieser lernt tschechisch bei ihr. Mit dieser Parabel wollte Rilke auf das Positive des Zusammenlebens der Deutschen und Slawen erinnern.
Keiner ist auf die Idee gekommen, « Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke » (1904) als Heimatdichtung zu bezeichnen. Jedoch ist dieses einzigartige Gedicht wohl in gewissem Sinne ein patriotisches Gedicht. So im Brief des jungen Cornets an seine Mutter schreibt der Soldat aus Langenau:
Meine gute Mutter,
seid stolz: ich trage die Fahne,
seid ohne Sorge: ich trage die Fahne,
habt mich lieb: ich trage die Fahne.
Die Weise vom Liebe und Tod des Cornets war ein grosser Erfolg und verkaufte sich in mehr als einer Million Exemplaren. Viele deutsche und österreichische Soldaten hatten das Gedicht bei sich, als sie in den ersten Weltkrieg zogen. Unwillkürlich denkt man auch an Erich Maria Remarques Roman “Im Westen Nichts Neues” und an den jungen Soldat Paul Bäumer, der wie der Cornet ebenfalls im Krieg fiel. Und doch – habent sua fata libelli – Bücher haben eigene Schicksale – wurde der Cornet auch von der Kriegspropaganda im ersten Weltkrieg eingesetzt, um Heldentum zu fördern.
Rilke war ein Suchender. Er suchte vor allem die eigene Identität. War er nun Prager-Deutscher, Böhme, Österreicher, Tscheche, Schweizer ? Für manche Leute bedeutet Heimat eben die Sprache. Nur las Rilke und sprach ausser Deutsch auch Tschechisch, Französisch, Italienisch, Spanisch, Russisch, Latein. Identität ist auch der Name, den man führt.
Im Sommer 1897, als Rilke nicht mehr in Prag sondern in München lebte, hat er sich entschlossen, seinen Namen zu ändern. Als « René » war er getauft worden. Jedoch überzeugte ihn seine grosse Liebe, Lou Andreas-Salomé, dass er fortan Rainer heissen müsse. Daraufhin änderte er seinen Namen und sogar seine Schreibweise.
Nicht mehr René, der junge Heimatdichter -- Rainer war nun Reisende – durch Deutschland, Russland, Frankreich, Italien, Schweden, Spanien und schliesslich durch die Schweiz, dessen Staatsangehörigkeit er anstrebte, ehe er im Dezember 1926 im Alter von nur 51 Jahren starb.
Bereits in Jahre 1902 brachte Rilke in einem Gedicht in der Sammlung « Buch der Bilder » seine Eigenschaft als Wanderer und seine tiefe Einsamkeit zum Ausdruck:
Ich habe kein Vaterhaus
und habe auch keines verloren;
meine Mutter hat mich in die Welt hinaus
geboren.
Da steh ich nun in der Welt und geh
in die Welt immer tiefer hinein,
und habe mein Glück und habe mein Weh
und habe jedes allein ...
Der erste Weltkrieg hat ihn künstlerich und seelisch schwer getroffen. Jahrelang konnte er nicht schreiben. Er suchte Ruhe, Geborgenheit, eine neue Heimat. Er fand sie zunächst in Soglio in Graubünden, dann in Wallis.
Ich komme zurück auf sein Gedicht « In Dubiis » aus den « Larenopfer » wo er sich über den Patriotismus äussert. Für Rilke bedeutet Vaterland ein Ort der Trautheit, der Intimität
Ist sein Heim die Welt; es misst ihm
doch nicht klein der Heimat Hort;
denn das Vaterland, es ist ihm
dann sein Haus im Heimatsort.
In diesem Sinne war der Château de Muzot bei Sierre sein Haus und das Wallis sein Vaterland geworden.
In diesem Sinne auch verstehen wir die wunderbaren Gedichte, die er in französischer Sprache verfasste. Ich habe vergessen, Ihnen mitzuteilen, dass der junge René vornehmlich französich mit seiner Mutter Phia sprach. Erinnern wir uns auch, wie viel französich bei Hugo von Hofmannthal in „Der Rosenkavalier“ vorkommt. Erinnern wir uns nebenbei auch daran, dass bis weit in das 19. Jahrhundert hinein das Französische in den gehobenen Ständen ganz Europas intensiv gepflegt wurde, und dass sogar Friedrich der Grosse sein Testament in französischer Sprache verfasste.
Rilke war also in der fanzösischer Sprache vollkommen zu Hause. Französisch war die Sprache, die er jahrelang in Paris sprach, als er Sekretär von Auguste Rodin war. Darum sollen wir nicht erstaunen, dass er auch in französisch dichtete. Erstaunlich ist nun die Quantität und vor allem die Qualität der Gedichte – mehr als 400 Gedichte in mehreren Sammlungen, wie – les Vergers, les Roses, les Fenêtres, les Quatrains Valaisans.
Als die 59 Gedichte des Zyklus « Vergers » im Jahre 1924 erschienen, gestand uns Rilke, dass er das Gefühl empfand, dem Kanton von Wallis ein Zeugnis seiner Dankbarkeit abzulegen, für alles was ihm das Land und die Menschen ihm gegeben hatten. Er verfasste das erste Gedicht der Vergers (Obstgärten) im Februar 1924, zwei Jahre nach der Vollendung der Duineser Elegien. Auch hier treffen wir Engel, die wir von den Elegien kennen :
Ce soir mon cœur fait chanter
des anges qui se souviennent…
Une voix, presque mienne,
par trop de silence tentée,
monte et se décide
à ne plus revenir
tendre et intrépide,
à quoi va-t-elle s’unir ?
und nun eine Prosaübersetzung von Rätus Luck,
Heute abend macht mein Herz
Engel singen, die sich erinnern…
Eine Stimme, fast meine
Durch zuviel Stille versucht.
steigt auf und entschliesst sich,
nicht mehr wiederzukehren;
zart und unerschrocken,
womit wird sie sich vereinen?
Endlich könnte Rilke wieder Landschaften besingen, wie der junge René in Böhmen getan hatte. Der nunmehr reife Rainer konnte nun mit reinem Herzen Heimatdichtung schreiben, so in den “Quatrains Valaisans “ (Die Walliser Vierzeiler):
Chemins qui ne mènent nulle part
entre deux prés,
que l’on dirait avec art
de leur but détournés,
chemins qui souvent n’ont
devant eux rien d’autre en face
que le pur espace
et la saison. »
Und nun die Prosaübersetzung von Rätus Luck:
Wege, die nirgendwohin führen
Zwiwschen zwei Wiesen,
von denen man meinen könnte,
sie seien kunstvoll von ihren Ziel weggebogen,
Wege, die oft vor sich
kein anderes Gegenüber haben
als den reinen Raum
und die Jahreszeit.
Hören wir nun den zweiten Vierzeiler:
Pays, arrêté a mi-chemin
entre la terre et les cieux,
aux voix d’eau et d’airain
doux et dur, jeune et vieux,
comme une offrande levée
vers d’accueillantes mains :
beau pays achevé,
chaud comme le pain !
Und die Übersetzung von Rätus Luck:
Land, angehalten auf halben Wege
Zwischen der Erde und den Himmeln,
mit Stimmen von Wasser und Erz,
sanft und hart, jung und alt.
Wie eine Opfergabe, emporgehoben
zu empfangenden Händen
schönes, vollendetes Land,
warm wie das Brot!
In diesem kurzen Gedicht erkennen wir die wahre Opfergabe Rilkes an die schwytzer Laren des Kanton Wallis.
Hören wir noch Quatrain Nummer 6 mit seiner impressionistischen Bildhaftigkeit. Wie er an seiner schweizerischen Freundin Nanny Wunderly-Volkart erklärte, bewiesen diese Quatrains, wie tief in seiner Seele der Wallis eingegangen war :
Pays silencieux dont les prophètes se taisent,
pays qui prépare son vin ;
où les collines sentent encore la Genèse
et ne craignent pas la fin !
qui, obéissant à l’été,
semble, autant que le noyer et que l’orme,
heureux de se répéter -- ;
Pays dont les eaux sont presque les seuls nouvelles,
toutes ces eaux qui se donnent,
mettant partout la clarté de leurs voyelles
entre tes dures consonnes !
Und nun eine Übersetzung in Prosa :
Stilles Land, von dem die Propheten schweigen,
Land, das seinen Wein bereitet;
Wo die Hügel noch die Schöpfung fühlen
Und das Ende nicht fürchten!
Land, zu stolz, um zu ersehnen,
was verwandelt, das, dem Sommer gehorschend,
glücklich scheint wie der Nussbaum und die Ulme,
sich zu wiederholen …
Land in dem die Wasser fast das einzig Neue sind,
all diese Wasser, die sich schenken,
überall ihrer Vokale Klarheit
zwischen deine harten Konsonanten fügend!
Also, ich glaube, wir dürfen nach dem bisher Gesagten feststellen: Rainer Maria Rilke verdient es, ein Heimatdichter genannt zu werden. Denn was ist eigentlich ein Heimatdichter? Gewiss jemand der über seine Heimat dichtet, über die Kirchen und Brücken und Brünnen, über die Flüsse und Landschaften. Dies hat Rilke getan – in Böhmen und im Wallis. Aber gewiss war Rilke kein Heimatdichter im Sinne von Hermann Löns (1866-1914 – in Frankfreich gefallen), Romanschreiber (Das zweite Gesicht, Dahinten in der Heide), und Poet der Lüneburger Heide und des Naturschutzes. Es gab und gibt viele Heimatdichter. Jeder ist es auf seine Art, -- sui generis. Rilke ist eher geistig verwandt mit einem anderen Dichter, der ebenfalls Böhme Adalbert Stifter (1805-1868), geboren in Oberplan (jetzt Horní Planá), Autor nicht nur stimmungsvoller Romanen des Böhmerwaldes sondern auch von historischen Romanen wie Witiko und anderen durchaus lesenswerten Werken wie Der Hochwald und Der Nachsommer.
Man merkt aber, dass Rilke die böhmische Mundart in seiner Dichtung nicht verwendet, obwohl er ab und zu tschechische Worte einsetzt. Auch wenn er sich Dialekte nicht bediente – wie so viele Heimatpoëten, -- beweisen seine Werke die tiefe Zuneigung, die er für die Landschaften empfand, wo er aufgewachsen war und wo er gerade lebte.
Der deutsche Schriftsteller Arnold Bauer behauptet, Rilke habe keine Heimat gehabt: « Rilke war heimatlos, ein ‘Vaterlandsloser’ ohne festen Sitz und bürgerliche Existenz. Er war ein Leben lang ein Suchender. Unrast trieb ihn durch fast alle europäischen Länder. Bis zuletzt bliebt er ruhelos ...“ usw. Peter Demetz, auch ein deutscher Schriftsteller, will uns erklären: „René war heimatlos in seiner Heimat“.
Ich dagegen meine, dass Rilke einen starken Sinn für Geborgenheit, Trautheit, also Heimat besass, und dass er die Landschaften liebte und die Menschen, die diese Landschaften belebten und Kultur stifteten.
Für den jungen René war Böhmen Heimat. Für den reifen Rainer war der Wallis Heimat, die ihm die Kraft verleih, die Duineser Elegien zu beenden und die Sonetten an Orpheus zu verfassen. Dort im Château de Muzot schrieb er seine wunderschönen französischen Gedichte. Er wollte sich verwurzeln, aber die Welt hatte sich gründlich verändert – vor allem durch und nach dem Ersten Weltkrieg, den er so ablehnte. Vielleicht dürfen wir die bekannte Maxime zitieren « ubi bene, ibi patria » Dort, wo man sich wohl fühlt, dort ist die Heimat. Dies hat sogar Rilke in der siebten Elegie sehr schön zum Ausdruch gebracht: « Hiersein ist herrlich. » Für Rilke war Wallis Hiersein und herrlich und Heimat.
Rilke hat dafür gesorgt, dass er in Wallis begraben wurde. Wo denn sonst? Denn diese Landschaft war seine letzte Heimat. Nach dem Ersten Weltkrieg konnte seine Vater- und Geburtstadt Prag nicht mehr Heimat sein, denn das von Rilke angestrebte Zusammenleben der Deutschen und Tschechen war zerstört. Prag war ihm fremd geworden. Rilke ist am 29. Dezember 1926 in der Klinik von Valmont bei Montreux an Leukämie verstorben. Begraben wurde er im Wallis, an der katholischen Dorfkirche auf dem Hügel über Raron, mit dem herrlichen Blick über das Tal der Rhone - und mit dem berümten Epitaph
« Rose, O reiner Widerpruch. Lust, niemandes Schlaf zu sein, unter so viel Lidern. »
Diese Grabschrift hätte aus dem XIX Sonett an Orpheus kommen können:
Nicht sind die Leiden erkannt,
nicht ist die Liebe gelernt,
und was im Tod uns entfernt,
ist nicht entschleiert.
Einzig das Lied überm Land
heiligt und feiert.
Meine Damen und Herren,
Ich hoffe Sie haben diese kurzen Reflexionen so empfunden, wie ich sie verstanden wissen möchte, nämlich als eine Einführung in eine bisher kaum behandelte Facette der vielschichtigen Persönlichkeit und Schaffens Rainer Maria Rilkes. Es gibt noch sehr vieles über diesen Dichter und sein Werk zu erforschen. Er hat uns noch viele Überraschungen zu bieten. Rilke zu erfragen und zu erforschen bleibt ein wunderbares Abenteuer.
Als letztes erlauben sie mir noch eine persönliche Bemerkung: Bei uns in der Schweiz sind viele Strassen nach Rilke benannt. Dasselbe gilt für Deutschland und Österreich – sogar in Spanien, wo Rilke auch lebte, gibt es Rilkestrassen, Rilkewege, Rilkeplätze. Jedoch ist keine einzige Rilkestrasse in Prag, nicht einmal eine Tafel in der Herrengasse, in der Heinrichsgasse, in der Wassergasse, kein Park ist nach ihm benannt, kein Brunnen, kein Platz, kein Museum, und es findet sich nirgendwo eine Büste des Dichters. Und doch gilt:
Er war einer der grössten Söhne Prags.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
(c) Professor Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas
Geneva School of Dilomacy
Mitglied, Internationale Rainer Maria Rilke Gesellschaft, Sierre, Wallis
President, PEN Centre Suisse romand/PEN International
zayas@bluewin.ch www.alfreddezayas.com
Das Gedicht kommt in Tyls Theaterstück Fidlovacka (1834) vor.