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Frankfurter Allgemeine Zeitung
Kein Stoff für Streit
12. Juni 1996
Daniel Jonah Goldhagen: Hitler's Willing Executioners. Ordinary Germans and the Holocaust. In America first published by A. Knopf 1996. Little, Brown and Company, London 1996. 622 Seiten, Abbildungen, 20,- Pfund.
Goldhagen fragt, wie der Holocaust überhaupt geschehen konnte. Er antwortet einfach: Die Deutschen insgesamt, nicht die "Nazis", waren seit Jahrhunderten gegen die Juden und entwickelten bereits vor Hitler einen ureigenen "eliminatorischen Antisemitismus".
Wie zuvor Rofum Christopher Browning in seinem Buch Ordinary Men untersuchte Goldhagen Akten über Mitglieder verschiedener Ordnungspolizeitruppen. Vieles hat Goldhagen von Browning übernommen – leider nicht die Objektivität. Während Browning das Unbehagen vieler Maenner des Bataillons zeigt und Dokumente abdruckt, die belegen, dass die Morde geheimzuhalten waren, meint Goldhagen, dass die meisten Deutschen von den Mordaktionen der Einsatzgruppen und Polizeibataillone gewusst hätten und damit einverstanden gewesen seien. Er leitet das ab aus der Haltung von kleinen Angestellten, Arbeitern und Handwerkern aus dem Hamburger Raum; es waren Familienvaeter, die in Polizeibataillone rekrutiert und mit dem Toeten beauftragt wurden. Goldhagens Argument: Wenn die Judenmoerder gewöhnliche Deutsche waren, so waren die uebrigen gewoehnlichen Deutschen ebenfalls potentielle Mörder.
Die Frage ist berechtigt, warum ein gewöhnlicher Mensch auf Befehl Frauen und Kinder erschießt. Goldhagens Antwort befriedigt nicht, weil er die Komplexität der konkreten Situation verkennt, weil er Gesichtspunkte
ausklammert, die nicht in seine These hineinpassen, und weil er nicht nuanciert. Die Nuernberger Gesetze und die Judensterne waren beschämend. Goldhagen hat jedoch nicht den Beweis erbracht, dass "die Deutschen" diese Massnahmen guthießen - auch wenn nur wenige wagten, dagegen zu protestieren. Einzigartig hingegen waren die Ausrottungspolitik, die Tätigkeit der Einsatzgruppen, die Vergasungen in Auschwitz.
Goldhagen behauptet, dass das Verschwinden von Millionen auch Millionen auffallen musste. Die Deutschen, die Judentransporte sahen, haetten wissen müssen, dass die Züge in Todeslager fuhren. Aber warum? Gerade weil die Ausrottungspolitik einzigartig und beispiellos war, konnte sich bestimmt nicht jeder diese Monströsität vorstellen. Viele der Fragen, die Goldhagen jetzt aufwirft, wurden durch die Nuernberger Anklaeger vor fünfzig Jahren gestellt und durch die Angeklagten ausführlich beantwortet. Erwartet Goldhagen, dass sein Buch als eine wissenschaftliche Arbeit ernst genommen wird, muss er zeigen, dass er das Archivmaterial und die einschlägige Literatur berücksichtigt hat.
Aber vergeblich sucht man im Text und im Anmerkungsapparat etwa nach Himmlers Posener Rede vom 4. Oktober 1943, in der Himmler an SS-Gruppenführer über die "Judenevakuierung" sprach: "Unter uns soll es einmal ganz offen ausgesprochen sein, und trotzdem werden wir in der Öffentlichkeit nie darüber reden. Es gehört zu den Dingen, die man leicht ausspricht - das jüdische Volk wird ausgerottet." Offensichtlich traute Himmler dem deutschen Volk nicht. Und als sich 200 SS-Leute 1943 zur Front melden wollten, weil sie das Morden nicht mehr aushielten, lehnte Himmler mit Hinweis auf die Geheimhaltung ab.
Goldhagen scheint das nicht zu wissen. Um die Geheimhaltung zu sichern, erließ Hitler den berüchtigten Führerbefehl Nr. 1; auch darüber bei Goldhagen kein Wort. Im NS-Staat galt Schweigepflicht für höhere
Regierungsbeamte wie den Pressechef Hans Fritzsche, der im Nürnberger Prozess angeklagt, jedoch freigesprochen wurde. Über den Holocaust sagte er am 28. Juni 1946 aus: "Ich bin als ein Journalist, der in jener Zeit gearbeitet hat, der festen Überzeugung, das deutsche Volk kannte den Massenmord an den Juden nicht; was auch immer an Behauptungen aufgestellt wurde, das waren Gerüchte, und was an Nachrichten in das deutsche Volk hineindrang von außen, das wurde amtlich immer und immer wieder dementiert . . . Nicht umsonst wurden die an der
Durchführung des Mordes Beteiligten unter den Befehl des strengsten
Stillschweigens gestellt. Hätte das deutsche Volk von dem Massenmord erfahren, es hätte Hitler sicher die Gefolgschaft versagt."
Goldhagens Vorwurf, die Deutschen seien eingefleischte Antisemiten, wird durch etliche Bücher und Erinnerungen widerlegt, die zeigen, dass antijüdische Maßnahmen wie die Kristallnacht von der Mehrheit der Bevölkerung nicht gebilligt wurden - wie amerikanische und britische Diplomaten seinerzeit berichteten und wie Goebbels in seinen Tagebüchern mit Enttäuschung feststellte. Nach Goldhagens Darstellung glich dagegen die Kristallnacht einem Volksfest. So etwas verrät nicht nur Unkenntnis. Es ist Unfug. In seiner Obsession, dem Leser seine Vorstellung zu vermitteln, die Deutschen seien stets Antisemiten, vergisst Goldhagen, wie viele deutsche Juden im Kreise Bismarcks wirkten, wie viele geadelt wurden, wie viele im Ersten Weltkrieg für das Reich
gekämpft und gefallen sind, überhaupt wie deutsch die deutschen Juden waren, wie viele "Mischehen" es gab. So gut integriert waren die deutschen Juden, dass viele Emigranten trotz des Holocausts nach dem Zweiten Weltkrieg nach Deutschland zurückkehrten.
Bringt dieses Buch neues wissenschaftliches Material? Eigentlich nicht. Neue Erkenntnisse? Auch nicht. Einsichten anderer, die wissenschaftlichen Erträge neuerer Forschung werden ignoriert. Neu ist allein die Radikalität des Urteils, das schlechthin als rassistisch bezeichnet werden kann. Hier ist kein Stoff für einen neuen Historikerstreit.
ALFRED DE ZAYAS
Bildunterschrift:
Fuer "anstaendig geblieben" hielt sich der Massenmoerder Himmler; hier
begruesst er den Generalgouverneur des besetzten Polen, Hans Frank (rechts), im
November 1943. Foto F.A.Z.
SECTION: Wirtschaft, Pg. 11, Politische Buecher
LENGTH: 978 words
LOAD-DATE: August 28, 1998
LANGUAGE: GERMAN; DEUTSCH
HIGHLIGHT:
Goldhagens Unfug, Goldhagens Unwissenheit
TYPE: Rezension: Sachbuch (Book Review: Nonfiction)
Copyright 1996 Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH
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