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Frankfurter Allgemeine Zeitung
29.
Dezember 2003
ÜBERSCHRIFT: Wem gehört Guantánamo Bay?;
Die Rechtslage um den Stützpunkt der Vereinigten Staaten / Von Alfred
de Zayas
Guantánamo hat viele Gesichter. Manche denken
dabei an das Guajira-Lied "Guantanamera", dessen Text von José
Marti stammt, dem Führer des kubanischen Unabhängigkeitskriegs.
Andere denken an die Stadt in der östlichsten Provinz Kubas, deren
zweihunderttausend Einwohner meist von der Zuckerverarbeitung leben. Für
die meisten Amerikaner ist "Gtmo" nur die Bucht mit dem ältesten
Marinestützpunkt außerhalb der Vereinigten Staaten, der während
des Spanisch-Amerikanischen Krieges 1898 besetzt und ab 1903 aufgrund
eines mit Kuba abgeschlossenen Vertrags gepachtet wurde.
Der Marinestützpunkt Guantánamo gehört
zu den besten Häfen Kubas und ist mit seiner Fläche von 117,6
Quadratkilometern größer als die Insel von Manhattan. Dafür
zahlten die Vereinigten Staaten eine Jahrespacht von 2000 Dollar, die
1934 auf 4085 Dollar angehoben wurde. Doch Kuba nimmt die Zahlungen nicht
mehr an. Seit 1959 hat das Land die Vereinigten Staaten immer wieder aufgefordert,
den Stützpunkt zu räumen, da der Pachtvertrag mit Gewalt durchgesetzt
worden sei, und solche Verträge haben nach dem modernen Völkerrecht
keinen Bestand.
Organisationen wie Amnesty International und Human Rights
Watch sehen in Guantánamo ein "rechtliches Schwarzes Loch"
für 660 Internierte aus 42 Ländern, darunter Talibankämpfer,
mutmaßliche Terroristen und sonstige in Afghanistan, Pakistan, Bosnien
oder anderen Ländern festgenommene Personen, die man vor nahezu zwei
Jahren nach Guantánamo geflogen und dort in Camp X (heute Camp
Delta) interniert hat. Für den hohen britischen Richter Lord Johan
Steyn bedeutet Guantánamo ein "ungeheuerliches Versagen der
Justiz".
Auf Guantánamo lassen sich drei Rechtsregime
anwenden, die jedoch von den Vereinigten Staaten straflos mißachtet
werden: zum einen das Menschenrecht. Die Vereinigten Staaten sind an das
Internationale Abkommen über bürgerliche und politische Rechte
sowie an die Konvention gegen Folter gebunden, die beide den Schutz aller
im Hoheitsbereich eines Vertragsstaates befindlichen Personen fordern,
und zwar unabhängig davon, ob es sich um Bürger des betreffenden
Staates handelt oder nicht. Die Vereinigten Staaten haben diese Konventionen
ohne Vorbehalte oder Abstriche unterzeichnet. Daher genießen die
Gefangenen nach dem Völkerrecht zahlreiche Rechte, darunter das Recht
auf Widerspruch gegen ihre Inhaftierung, das Recht auf freien Zugang zu
einem Rechtsbeistand, auf ein geregeltes Verfahren und auf menschliche
Behandlung. Die Menschenrechte gelten sowohl im Krieg als auch in Friedenszeiten.
Zum zweiten ist das humanitäre Völkerrecht
zuständig. Die meisten Gefangenen sind nach Artikel 4 der Dritten
Genfer Konvention von 1949 als Kriegsgefangene einzustufen. In Artikel
5 heißt es, wenn Zweifel über den Status einer Person bestanden,
"genießt diese Person den Schutz des vorliegenden Abkommens,
bis ihre Rechtsstellung durch ein zuständiges Gericht festgestellt
worden ist". Schließlich kommen die Verfassung der Vereinigten
Staaten und die Bill of Rights zum Zuge, da beide ihren Geltungsbereich
nicht auf Gebiete beschränken, die sich formell im Hoheitsbereich
der Vereinigten Staaten befinden, so daß auch amerikanische Militärbasen
im Ausland nicht ausgenommen sind. Tatsächlich erweiterte das Bezirksgericht
für den östlichen Bezirk des Staates New York den Schutz der
Bill of Rights auf die während der neunziger Jahre in Guantánamo
internierten haitianischen Flüchtlinge.
Aber es gibt um Guantánamo noch eine andere,
gravierendere Anomalie: die Tatsache, daß die Vereinigten Staaten
die Bucht auf kubanischem Hoheitsgebiet seit 105 Jahren besetzt halten
und seit 100 Jahren gepachtet haben. Die meisten Pachtverträge sind
befristet, und die Obergrenze beträgt 99 Jahre. Es sei daran erinnert,
daß die (seit 1903 gleichfalls vertraglich abgesicherte) Besetzung
der Panamakanalzone 1977, die britische Besetzung Hongkongs 1997 und die
portugiesische Besetzung Macaos 1999 endeten. Die Rückgabe vieler
Kolonialgebiete und anderer besetzter Territorien an die rechtmäßigen
Hoheitsträger und Völker entsprach den Grundsätzen der
Selbstbestimmung und Entkolonialisierung nach dem Zweiten Weltkrieg.
Im Fall Guantánamo jedoch erheben die Vereinigten
Staaten den Anspruch auf ein unbefristetes Pachtverhältnis. In Artikel
1 des Vertrags von 1903 gewährte Kuba tatsächlich die Pacht
"für die Zeit, die für die Zwecke einer Bunkerstation und
Marinebasis erforderlich ist". Doch in Artikel 3 heißt es:
"Während die Vereinigten Staaten die fortdauernde Oberhoheit
der Republik Kuba über die oben beschriebenen Land- und Wasserflächen
anerkennen, gesteht die Republik Kuba zu, daß die Vereinigten Staaten
während der gesamten Zeit der nach den Bestimmungen dieses Vertrags
erfolgenden Besetzung der besagten Flächen die vollständige
Jurisdiktion und Kontrolle über besagte Flächen und innerhalb
dieses Gebiets ausüben."
Seit 1959 behauptet Kuba im bilateralen Verhältnis
und vor den Vereinten Nationen, daß die Pachtverträge von 1903
und 1934 nach dem modernen Völkerrecht nichtig seien und Guantánamo
"illegal und gegen den Willen des kubanischen Volkes besetzt gehalten"
werde. Natürlich hat Kuba keine Möglichkeit, die Vereinigten
Staaten aus Guantánamo zu vertreiben. Es kann nur protestieren,
und diese Proteste haben völkerrechtlich die Funktion, die Vereinigten
Staaten daran zu hindern, den Kubanern eine stillschweigende Zustimmung
zu unterstellen. Dadurch ist es den Vereinigten Staaten unmöglich,
die Hoheit über das Gebiet mit dem Hinweis auf die Besetzung und
ein altbewährtes Recht zu beanspruchen.
Kuba argumentiert weiter, der Pachtvertrag sei nichtig,
weil die Vereinigten Staaten einen schwerwiegenden Verstoß gegen
dessen Bestimmungen begangen hätten. In Artikel 1 und 2 des Vertrags
ist eindeutig bestimmt, zu welchen Zwecken das Pachtobjekt genutzt werden
darf, nämlich "als Bunkerstation und Marinebasis und zu keinem
anderen Zweck". Nach Artikel 60 der Wiener Konvention über das
Vertragsrecht ist ein Vertrag bei schwerwiegenden Verstößen
gegen seine Bestimmungen nichtig. Eine Verwendung des Territoriums als
Internierungslager (für knapp vierzigtausend haitianische Flüchtlinge
von 1991 bis 1994, später für gut zwanzigtausend kubanische
Bootsflüchtlinge) oder als Kriegsgefangenenlager und Verhörzentrum,
in dem möglicherweise Prozesse und Hinrichtungen durchgeführt
werden sollen, ist offensichtlich unvereinbar mit Ziel und Zweck des Vertrages
und stellt einen schwerwiegenden Verstoß dar, der eine einseitige
Beendigung des Vertragsverhältnisses durch Kuba rechtfertigt.
Außerdem ist eine gewisse Sorge über die
Menschenrechte auf dem Stützpunkt wohl berechtigt. Falls tatsächlich
gefoltert wird, wäre dieser grobe Verstoß gegen die Menschenrechte
ein noch schwerer wiegender Verstoß gegen den Pachtvertrag, der
dessen sofortige Auflösung rechtfertigte. Und noch weitere rechtliche
Fragen warten auf eine Antwort. Ist die fortdauernde Besetzung von Guantánamo
durch die Vereinigten Staaten zum Beispiel mit der Charta der Vereinten
Nationen vereinbar, insbesondere mit Artikel 2 Absatz 4, der den Einsatz
von Gewalt verbietet? Ist sie mit dem Internationalen Abkommen über
bürgerliche und politische Rechte vereinbar, das das Recht der Völker
auf Selbstbestimmung und auf die freie Verfügung über ihre natürlichen
Ressourcen garantiert? Ist sie mit der Resolution Nr. 2625 (XXV) der Vollversammlung
der Vereinten Nationen vom 24. Oktober 1970 vereinbar, also der sogenannten
Erklärung über Grundsätze des Völkerrechts betreffend
freundschaftliche Beziehungen und Zusammenarbeit zwischen den Staaten
im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen? Diese berühmte
Entschließung, auch Friendly-Relations-Resolution genannt, wurde
ohne Gegenstimme angenommen und stärkt den Grundsatz der Gleichberechtigung
und Selbstbestimmung der Völker wie auch das Prinzip der gleichen
Souveränität aller Staaten.
Es gibt eine völkerrechtliche Pflicht zu Verhandlungen,
und nach Artikel 2 Absatz 3 der Charta der Vereinten Nationen müssen
Streitigkeiten durch friedliche Mittel beigelegt werden. Daher scheint
es angebracht, die strittigen Fragen durch eine bindende Entscheidung
oder durch einen Schiedsspruch des Internationalen Gerichtshofs klären
zu lassen, wenn der Streit sich nicht durch bilaterale Verhandlungen zwischen
den Streitparteien beilegen läßt.
Jedes zu diesem Zweck angerufene Gericht hätte
die Bedeutung des Ausdrucks "Hoheit" in Artikel 3 des Pachtvertrags
von 1903 zu klären. Doch noch ein weiterer Ausdruck bedürfte
einer Interpretation, nämlich das Wort "fortdauernd", denn
der Vertrag sichert Kuba die "fortdauernde Oberhoheit" zu. Die
Frage ist, ob die Hoheitsrechte eines Staates hinter den Klauseln eines
Pachtvertragszurückstehen müssen, der keine Befristung enthält.
Viele Völkerrechtler sind der Ansicht, daß die Möglichkeit
einer Beendigung in solch einen Vertrag hineininterpretiert werden muß.
(Selbst der Panamakanalvertrag von 1903, der den Vereinigten Staaten die
Hoheit auf "ewige Zeiten" übertrug, erforderte eine Neuverhandlung
und endete 1977.)
Angesichts der bedrückenden Situation der Gefangenen
wie auch der fortdauernden Besetzung kubanischen Staatsgebiets durch die
Vereinigten Staaten könnte die Vollversammlung der Vereinten Nationen
gemäß Artikel 96 der Charta den Internationalen Gerichtshof
um gutachterlichen Rat bitten, etwa hinsichtlich der Anwendung des Internationalen
Abkommens über bürgerliche und politische Rechte und der Genfer
Konventionen in Guantánamo und hinsichtlich der völkerrechtlichen
Folgen der fortdauernden Besetzung Gantánamos durch die Vereinigten
Staaten. Das berühmte Gutachten des Internationalen Gerichtshof im
Fall
Südwestafrikas oder Namibias war ein wichtiger Nagel im Sarg der
Apartheid und verstärkte den internationalen Druck, der Namibia schließlich
die Unabhängigkeit brachte.
Bis diese Probleme gelöst sind, bleibt Guantánamo
eine internationale Herausforderung für die Rechtsstaatlichkeit und
ein Verstoß gegen deren Grundsätze. Der frühere Ankläger
beim Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien
Richard Goldstone sagte am 5. Oktober 2003 in einem BBC-Interview: "Ein
zukünftiger amerikanischer Präsident wird sich für Guantánamo
entschuldigen müssen."
Aus dem Englischen von Michael Bischoff.
Der Autor ist Visiting Professor of International Law
an der University of
British Columbia in Vancouver. Er war früher Sekretär des
Menschenrechtsausschusses der Vereinten Nationen und Leiter der
Petitionsabteilung beim UN-Hochkommissar für Menschenrechte in Genf.
Reif für die Insel: Ein Blick durch den Nato-Draht
auf den Kittery-Strand des
amerikanischen Stützpunktes.
Foto AFP
EINZELVORSCHRIFT: Feuilleton; S. 36
LÄNGE: 1768 words
UPDATE: 31. Dezember 2003
Below is a facsimile of an uncashed check of the U.S.
Treasury to the Tesorero General de la Republica de Cuba in the amount
of $ 4.085 as purported annual lease for 117.6 square kilometers of Cuban
territory (larger than Manhattan Island). Cuba has asked the United States
to end its illegal occupation . But the US stays put and Cuba keeps the
uncashed checks in a museum.
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