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Frankfurter Allgemeine Zeitung

3. Februar 2006

RUBRIK: Politik; Rezension: Sachbuch; Politische Bücher; S. 6

ÜBERSCHRIFT: Gegen Dreistigkeit;
Diskurs über Nahost-Konflikt erfordert intellektuelle Redlichkeit

TEXT:
Gemeinhin weiß man sehr wohl, wovon bei ihm die Rede ist: vom "Dreisten" und vom "Unverfrorenen". Doch in der amerikanischen Umgangssprache weckt das jiddische Wort der "Chuzpe" oft durchaus positive Assoziationen, solche von "Mut" und "Kühnheit". So gab Alan Dershowitz - Harvard-Professor und ehemaliger Strafverteidiger von Sportgrößen wie O. J. Simpson (erfolgreich) oder Mike Tyson (erfolglos) - seiner Autobiographie den Titel "Chutzpah".
Norman Finkelstein, Politwissenschaftler an der DePaul University in Chicago, gibt dem Begriff seinen originalen jiddischen Sinn zurück. Er tat es offensichtlich in bewußter Absage an Alan M. Dershowitz, einem der führenden Vertreter des amerikanischen Zionismus, der in seiner Streitschrift "The Case for Israel" (2003) die Folterpraktiken israelischer Militärs und Geheimdienstler, die teils wahllose, teils gezielte Tötung Tausender von Palästinensern, die Vertreibung Hunderttausender von ihnen seit der Gründung Israels und die Zerstörung ihrer Heime zum Zwecke des Baues jüdischer Siedlungen arrogant rechtfertigte.
Finkelstein, auch er Jude und Sohn von Holocaust-Überlebenden, greift seinen Gegner direkt an und fordert im Umgang mit der Geschichte und Gegenwart Israels intellektuelle Redlichkeit ein, er verlangt mithin nichts weniger als die Überwindung der "Chuzpe". Allein in dieser Überwindung sieht er die Chance eines von allen akzeptierten Friedens zwischen Juden und Palästinensern. Man kennt des Autors kompromißlose Haltung aus früheren Büchern wie "The Holocaust Industry" und "A Nation on Trial", letzteres eine Zurückweisung der Thesen Daniel Goldhagens. Wie diese Schriften ist auch "Beyond Chutzpah" eine polemische Abrechnung. Aber das Buch ist zugleich nüchterne Abhandlung und Analyse, die zu dem Schluß führt, daß Dershowitz' Ausführungen nicht nur dreist und arrogant im Ton sind, sondern von Halb- und Unwahrheiten strotzen.
Man kann die Vielfalt und Seriosität der von Finkelstein herangezogenen Geschichts- und Rechtsquellen kaum genug hervorheben: Berichte von Amnesty International, Human Rights Watch, Plenarsitzungen der UN-Menschenrechtskommission und vieles andere mehr. Sie alle dienen zwei miteinander verflochtenen Zielen, nämlich der Kritik am vulgären Rassismus und am Antisemitismus sowie - in scharfer Abgrenzung dazu - der Verurteilung der israelischen Politik. Daß die Vereinigten Staaten dabei ins Visier des Autors gelangen, verwundert nicht, sondern ist geradezu zwangsläufig. Anhand zahlreicher Beispiele illustriert er, wie auch die zaghafteste Kritik an Israel in den amerikanischen Medien und in der politischen Öffentlichkeit zum Vorwand genommen wird, die Rufer und Mahner ins antisemitische Lager abzudrängen.
Daß israelische Medien das Buch einer scharfen Kritik unterzogen und zuweilen nicht zögerten, den Autor auch persönlich anzugreifen, überrascht nicht, wenn man bedenkt, in welch scharfer Form auch Finkelstein seine Gegner zu provozieren pflegt. Außerhalb Israels und der Vereinigten Staaten hingegen wurde "Beyond Chutzpah" eher wohlwollend aufgenommen. Und dies, wie der Rezensent meint, nicht zu Unrecht, denn bei aller Polemik scheint die Argumentation doch inhaltlich sehr stichhaltig - sei es, wenn der Autor mit Hilfe zahlreicher Beispiele auf die Geist und Moral so lähmenden Auswirkungen der "Political Correctness" im amerikanischen politischen Meinungs- und Entscheidungsfindungsprozeß in Sachen "Nahost" hinweist, oder seien es seine Anklagen gegen Elaborate amerikanischer Lehrstuhlinhaber wie Dershowitz, denen zur Verteidigung Israels die Anwendung fragwürdigster argumentativer Mittel gut und recht ist.
Welche Konsequenzen können aus diesem Buch für den politischen Alltag gezogen werden, insbesondere in der Menschenrechtspolitik der EU? Vielleicht sollte die EU versuchen, Einfluß auf Israel zu nehmen, und verlangen, daß sie die UN-Resolutionen in die Tat umsetzt und die Feststellungen des Internationalen Gerichtshofes vom 9. Juli 2004 bezüglich der Völkerrechtswidrigkeit der Trennungsmauer respektiert. Finkelstein zwingt jedenfalls seine Leser zum ernsthaften Nachdenken über eines der brennendsten politischen Problemfelder unserer Zeit.
ALFRED de ZAYAS
Norman G. Finkelstein: Beyond Chutzpah. On the Misuse of Anti-Semitism and the Abuse of History. University of California Press, Berkeley 2005. 332 S., 20,- [Euro].


 

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