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DIE GROßE FLUCHT AUS DEM OSTEN

Der deutsche Exodus aus Mittel- und Osteuropa begann nicht erst 1944 mit der Flucht vor der Roten Armee. Er setzte bereits im Jahre 1939 ein, als Hitler die »Splitter des deutschen Volkstums« aufrief, »Heim ins Reich« zu kommen. In seiner Reichstagsrede vom 6. Oktober 1939 bezeichnete er als »wichtigste Aufgabe« nach Abschluß des Polenfeldzuges »eine neue Ordnung der ethnographischen Verhältnisse, das heißt, eine Umsiedlung der Nationalitäten, so daß sich am Abschluß der Entwicklung bessere Trennungslinien ergeben, als es heute der Fall ist«.

Den Anstoß zu diesem Umsiedlungsprogramm gab das Zusatzprotokoll des deutsch-sowjetischen Nichtangriffpaktes vom 23. August 1939, welches u. a. die jeweiligen Interessenbereiche in Osteuropa abgrenzte. Da das Baltikum sowjetisches Interessengebiet war, sollten die Deutschen in diesen Staaten Gelegenheit haben, für das Reich zu optieren. Im Jahre 1939 lebten etwa 17 000 Deutsche in Estland, 63 000 in Lettland und 52 000 in Litauen.

Die Situation der Deutschbalten, die die wirtschaftliche oder adlige Oberschicht stellten, verschlechterte sich nach dem Ersten Weltkrieg, so daß viele von sich aus allmählich eine »Rückkehr« ins Reich erwogen. Deshalb war Hitlers Einladung von 1939, ins Reich umgesiedelt zu werden, für viele Deutschbalten durchaus attraktiv. Die Mehrheit optierte 1939 für Deutschland; die übrigen folgten 1941, nachdem die Sowjetunion die baltischen Staaten besetzt hatte. So wurden die Deutschen aus Estland auf Grund des deutsch-estnischen Protokolls vom 15. Oktober 1939 und die Deutschen aus Lettland durch den deutsch-lettischen Umsiedlungsvertrag vom 30. Oktober 1939 nach Westen umgesiedelt. Diejenigen aber, die zurückgeblieben waren, sowie die Deutschen aus Litauen entschlossen sich auf Grund des deutsch-sowjetischen Umsiedlungsvertrages vom 10. Januar 1941 zur Ausreise. Bemerkenswert ist, daß die Ausreise der Deutschbalten weitgehend freiwillig erfolgte und daß sie Hausrat sowei manchmal Pferde, Rinder, Schweine und Schafe haben mitnehmen können. Sie wurden in ihren Siedlungsgebieten - Westpreußen und Warthegau - nicht geschlossen angesiedelt, sondern lebten über das ganze Land verstreut unter der übrigen deutschen Bevölkerung. Nur in den Städten Posen, Lodz (Litzmannstadt) und Gdingen (Gotenhafen) waren sie in größeren Gruppen anzutreffen. Nach Ausbruch des deutsch-sowjetischen Krieges im Sommer 1941 kehrten zahlreiehe Deutschbalten zurück, vor allem nach Litauen, so daß sie im Sommer 1944 flüchten mußten, um von der anrückenden Roten Armee nicht überrollt zu werden.

Hitlers »Heim-ins-Reich«-Programm betraf nicht nur die Deutschbalten, sondern auch die Volksdeutschen in Wolhynien, Rumänien, Bulgarien und Jugoslawien. Vor dem Krieg lebten etwa 50OOOVolksdeutsche im polnischen Wolhynien, die 1939-40 in das Gebiet von Posen übersiedelten. Aus Rumänien wurden rund 215 000 Volksdeutsche umgesiedelt: 93 500 aus Bessarabien, 43 000 aus der Nordbukowina, 52000 aus der Südbukowina, 154000 aus der Norddrobrudscha, 500 aus der Süddobrudscha und 10000 aus Altrumänien. Sie wurden überwiegend im damaligen Reichsgau Danzig-Westpreußen und im Warthegau angesiedelt. Nur verhältnismäßig wenige Volksdeutsche wurden aus Jugoslawien umgesiedelt, rund 35 800 aus dem Krain (mit Gottschee, Nordjugoslawien), Bosnien-Herzegowina, Kroatien und Serbien. Zum Teil blieben sie im besetzten Jugoslawien, so die 14000 Gottscheedeutschen in der Untersteiermark, während andere in Polen im Distrikt Lodz und in Lublin angesiedelt wurden. Auch die etwa 3 500 Seelen zählende deutsche Minderheit Bulgariens wanderte auf Grund eines deutsch-bulgarischen Umsiedlungs-Vertrages aus. Viele wurden im Warthegau, andere im Distrikt Lublin neu angesiedelt. Sie wurden somit ebenfalls Opfer späterer Flucht und Vertreibung.

Evakuierung und Flucht in Südosteuropa

Die sowjetische Großoffensive vom 22. Juni 1944 war der Auftakt für die Evakuierung und die Flucht der Volksdeutschen im Südosten. Den Umsiedlungen aus Rumänien zu Anfang des Krieges folgten eine Teilevakuierung bzw. Flucht ab Sommer 1944. Der politische Umsturz in Rumänien am 23. August 1944 machte den sowjetischen Truppen den Weg bis an die ungarische Grenze frei. Im September zogen die ersten Volksdeutschen Flüchtlingstrecks aus Rumänien durch Ostungarn. Etwa 20 000 Volksdeutsche flüchteten aus Nordsiebenbürgen, 2 000 aus Sathmar und 66 000 aus dem rumänischen Banat und aus Südsiebenbürgen.

Im September 1944 drang die Rote Armee in Ungarn ein. Hier ging die Evakuierung verhältnismäßig organisiert auf bereits festgelegten Treckwegen vor sich. Verpflegungsstellen wurden eingerichtet und Durchgangsquartiere vorbereitet. In jedem Ort sorgte ein Evakuierungsbeauftragter für die Betreuung der durchziehenden Trecks. Die Deutschen aus Budapest wurden z. T. Ende Oktober evakuiert. Als jedoch am 24. Dezember die Stadt von sowjetischen Truppen eingeschlossen wurde, befanden sich hier noch Tausende von Volksdeutschen. In Westungarn lehnte es der weitaus größte Teil der Ungarn-Deutschen ab, die Heimat zu verlassen, denn sie hielten den Krieg für verloren und hofften darauf, die kommenden Zeiten in der altvertrauten Umgebung besser überstehen zu können als in der Ungewissen Fremde. Diejenigen, die flüchteten, leiteten ihre Trecks westlich nach Österreich, einige weiter nach Bayern und Württemberg oder in nördliche Richtung nach Böhmen und Mähren, nach Sachsen und sogar bis nach Schlesien. Wichtig ist zu bemerken, daß im allgemeinen keine Spannungen zwischen Deutschen und Madjaren bestanden; nicht selten versuchten die Madjaren, die Abfahrenden zum Dableiben zu bewegen.

Trotz der Bemühungen des nationalsozialistisch orientierten Volksbundes, möglichst viele Volksdeutsche zur Evakuierung zu bewegen, blieb die Zahl der Flüchtenden verhältnismäßig gering. Sie betrug ungefähr 10-15 Prozent der UngarnDeutschen, also 50000 bis 60000 Personen. Die Evakuierung aus Jugoslawien wurde z. T. infolge des Partisanenkrieges bereits im Januar 1944 in Gang gesetzt, als Himmler die Umsiedlung der Volksdeutschen aus den »bandengefährdeten« Gebieten Westslawoniens nach Syrmien anordnete. Bis Ende April 1944 waren rund 25 000 Slawoniendeutsche in die Umgebung von Esseg transportiert und provisorisch bei deutschen Familien und auf verlassenen serbischen Gehöften untergebracht worden. Unter dem Zwang der militärischen Lage begannen im Oktober 1944 die mit Hilfe der Wehrmacht organisierten Trecks nach Österreich zu ziehen. Aus der Batschka und Baranja gelang später etwa der Hälfte der Deutschen die Flucht. Aus dem Banat flüchteten jedoch weniger als ein Zehntel; nur die in Belgrad wohnenden Deutschen wurden noch rechtzeitig vor Beginn der Belagerung mit Eisenbahn und Schiffen aus der Stadt herausgebracht. Schätzungsweise über 200 000 Volksdeutsche flüchteten aus Jugoslawien, während über 200 000 unter der Besatzungsherrschaft von Russen und Partisanen zurückblieben.

 

Evakuierung aus dem Baltikum und den deutschen Ostprovinzen             /

Die Evakuierung und Flucht aus den Ostprovinzen, vor allem aus Ostpreußen, gehört zu den großen Katastrophen der abendländlichen Geschichte. Die Zahl der betroffenen Personen ist dabei nur ein äußerer Rahmen für die Größe des Elends, der Not, aber auch des Edelmuts in dieser Zeit.

Die Vorkriegsbevölkerung der deutschen Ostprovinzen ist vom Statistischen Bundesamt auf 9 620 800 geschätzt worden, 2 488 100 in Ostpreußen, l 895 200 in Ostpommern, 644 800 in Ostbrandenburg und 4 592 700 in Schlesien.

Hinzu kamen 249 500 Deutsche in den Baltischen Staaten und dem Memelgebiet, 380 000 in Danzig und l 371 000 in Polen, vor allem in den früheren Reichsprovinzen Westpreußen, Posen und Oberschlesien. Während des Krieges waren Umsiedler aus Ost- und Südosteuropa in diese Gebiete gekommen, so daß insgesamt rund zwölf Millionen Deutsche östlich der Oder-Neiße-Linie lebten. Niemand ahnte im Sommer 1944, daß ein Jahr später über sieben Millionen geflohen sein würden.

Die ersten, die vor der rasch anrollenden Front »provisorisch« evakuiert werden mußten, waren die 120 000 Memeldeutschen. Am 13. Juli 1944 wurde Wilna, am 1. August Kowno von sowjetischen Truppen eingenommen. Bald zogen die ersten Trecks von Memel nach Westen durch Ostpreußen. Dort waren die Bauern zuversichtlich, denn sie hatten im Juli 1944 den »Ostwall« gebaut. Männer bis zum 65. Lebensjahr waren zu Schippkolonnen zusammengestellt und an die östliche Grenze Ostpreußens und hinter der Narew-Front zum Bau von Panzergräben, Schützenlöchern und Bunkern geschickt worden. Für den gesamten Ostwallbau von der Memel bis Warschau lag der Oberbefehl in den Händen des Gauleiters und »Reichsverteidigungskommis-sars« von Ostpreußen, Erich Koch.

Die Propaganda hatte die ostpreußische Bevölkerung davon überzeugt, daß die Russen allenfalls bis Memel vorstoßen könnten, dort aber würde die Wehrmacht sie vor der Grenze Ostpreußens zunächst zum Halten bringen und dann zurückwerfen. Tatsächlich galt bis Mitte 1944 Ostpreußen als eine Oase des Friedens. Viele Tausende sogenannter »Bombenevakuierter« suchten dort Sicherheit vor den fast pausenlosen Luftangriffen im Westen. Hier vor allem fanden nach einer Vereinbarung zwischen Gauleiter Erich Koch und Goebbels viele Berliner Familien Zuflucht.

Im Sommer 1944 mußten die Heeresgruppe Mitte (Generaloberst Reinhardt) und die Heeresgruppe Nord (Generaloberst Schörner) schwere Niederlagen hinnehmen. Sie zogen von der Ukraine und Weißrußland 400 Kilometer in Richtung Ostpreußen zurück. Die »Goldfasane«, d. h. die Parteifunktionäre im besetzten sowjetischen Gebiet, deren Tätigkeit nun ein jähes Ende gefunden hatte, strömten daraufhin nach Königsberg. Die Erzählungen der zurückflutenden Menschen trugen nicht zur Beruhigung der ostpreußischen Bevölkerung bei. Danach setzte die Flucht der Bombenevakuierten aus Berlin und anderen Orten Westdeutschlands ein. Die ostpreußische Bevölkerung durfte aber zunächst nicht fliehen, weil dies als Zweifel am Endsieg ausgelegt wurde. Trotzdem warnten erfahrene militärische Befehlshaber die zivilen Behörden in Ostpreußen mehrmals vor der Bedrohung durch die sich rasch nähernde Front.

Schon im August 1944 schlug der Oberbefehlshaber der 4. Armee, General Friedrich Hossbach, die vorbeugende Evakuierung der Zivilisten aus den östlichen Gebieten Ostpreußens vor, doch die politische Führung verurteilte solche Vorschläge als Defätismus und verbot sie, bis es zu spät war. Am 16. Oktober 1944 begann die Rote Armee, und zwar die 3. weißrussische Front unter General Tschernjachowski, auf einer Breite von rund 140 Kilometern eine Großoffensive mit fünf Armeen (40 Schützen-Divisionen und zahlreiche Panzerverbände) gegen die Ostgrenze von Ostpreußen. Sowjetische Flugzeuggeschwader überschütteten Gumbinnen mit Massen von Bomben und verursachten erhebliche Zerstörungen. Es gelang ihnen, große Teile der deutschen Artillerie und der panzerbrechenden Waffen zu zerschlagen. Die 1. deutsche Infanterie-Division, die den Frontalangriff abfangen mußte, erlitt erschreckend hohe Verluste. Jedes Geschütz, das noch feuerte, bildete ein Widerstandsnest. Einzelne Grenadiere, die den Nahkampf überlebten, schlugen sich zu diesen Punkten durch, doch diese wurden von den Russen überrollt. Nur wenige Versprengte konnten sich zur nächsten Auffanglinie durchkämpfen.

Die Sowjets hatten die Reichsgrenze zwar noch nicht überschritten, aber die Gefahr war so offensichtlich, daß der Landrat von Ebenrode seinen ganzen Kreis räumen ließ. Kurzfristige Evakuierungsbefehle ergingen für den Kreis Schloßberg am 17. Oktober, am gleichen Tage auch für die nördlichen und östlichen Gemeinden des Kreises Goldap; für den Kreis Gumbinnen erst am 20. Oktober, als die Russen bereits in das Kreisgebiet eingedrungen waren. Eine geordnete Evakuierung war bei der Panikstimmung nicht mehr möglich, und die überstürzte Flucht ergab ein wildes Durcheinander. Die Trecks zogen aus den Kreisen Goldap, Angerapp, Gumbinnen, Schloßberg, Tilsit und Ragnit in Richtung Westen. Viele wurden von den Russen unterwegs überrollt.

Inzwischen hatte Hitler am 18. Oktober zur Bildung des Volkssturms aufgerufen. »Während der Gegner glaubt, zum letzten Schlag ausholen zu können, sind wir entschlossen, den zweiten Großeinsatz unseres Volkes zu vollziehen. Es wird und muß uns gelingen, wie in den Jahren 1939-1940, ausschließlich auf unsere Kraft bauend, nicht nur den Vernichtungswillen der Feinde zu brechen, sondern sie wieder zurückzuwerfen und so lange vom Reich abzuhalten, bis ein die Zukunft Deutschlands, seiner Verbündeten und damit Europas sichernder Friede gewährleistet ist.«

Ungenügend bewaffnet und ausgerüstet, konnten »alle waffenfähigen Männer von 16 bis 60 Jahren« den Millionenheeren der Alliierten nicht standhalten, auch wenn sie tapfer um jedes Haus kämpften. Gauleiter Koch schickte die nicht ausgebildeten Volkssturmmänner in den Tod, z. B. das Volkssturm-Ersatz-Bataillon Goldap, das 400 Mann stark war und aus vier Kompanien bestand. Uniformen, Erkennungsmarken, Verbandpäckchen und Decken wurden nicht ausgegeben.

Am 19. Oktober brachen die Russen ins Reichsgebiet ein. Ortschaften gingen verloren und wurden durch die Wehrmacht wieder genommen, bis sie sich der russischen Übermacht ergeben mußte. Am 20. Oktober setzten die Russen neue Panzerverbände der 11. Garde-Armee (Generaloberst Galitzki) ein. Sie überquerten den Fluß Angerapp und überrannten Nemmersdorf im Kreis Gumbinnen. Am 21. Oktober bestand die Gefahr, daß Gumbinnen selbst in russische Hände fallen könnte. Die deutsche Verteidigung wurde verstärkt, auch der Volkssturm eingesetzt. Bis zum 23. Oktober hatte das Goldaper Bataillon 76 Mann durch Tod unc Verwundung verloren. Die Verwundeten, die den Russen in die Hände fielen, sind wahrscheinlich als Partisanen erschossen worden, da sie ohne Uniformen kämpften. Aber der tiefe Einbruch bis Nemmersdorf sollte den Höhepunkt der Oktoberoffensive bilden, denn es gelang durch einen Zangenangriff, die durchgebrochenen Russen abzuschneiden und an der Rominte eine neue Abwehrfront einzurichten. Die Russen behielten in ihrer Hand zwar Tilsit, Trakehnen und Ebenrode, stellten aber den Vorstoß nach Westen ein. Erst am 12. Januar 1945 griffen sie wieder an. Nemmersdorf war eine der vielen befreiten Ortschaften. Wie war es der deutschen Bevölkerung während der Besetzung ergangen? Die qualvollen Geschehnisse sind von vielen Augenzeugen belegt. So berichtet der ehemalige Stabschef der 4. Armee Generalmajor Erich Dethleffsen: »In einer größeren Anzahl von Ortschaften südlich Gumbinnen (wurde) die Zivilbevölkerung - z. T. unter Martern wie Annageln an Scheunentore - durch russische Soldaten erschossen. Eine große Anzahl von Frauen wurde vorher vergewaltigt. Dabei sind auch etwa 50 französische Kriegsgefangene durch russische Soldaten erschossen worden.« Der Augenzeuge Oberleutnant Dr. Heinrich Amberger berichtete über Nemmersdorf weiter: »Am Straßenrand und in den Höfen der Häuser lagen massenhaft Leichen von Zivilisten, die augenscheinlich nicht im Lauf der Kampfhandlungen durch verirrte Geschosse getötet, sondern planmäßig ermordet worden waren. Unter anderem sah ich zahlreiche Frauen, die man, nach der Lage der verschobenen und zerrissenen Kleidungsstücke zu urteilen, vergewaltigt und danach mit Genickschuß getötet hatte; zum Teil lagen daneben auch die ebenfalls getöteten Kinder.« Auch Schweizer Korrespondenten haben damals über Nemmersdorf berichtet. Am 7. November 1944 veröffentlichte der Genfer »Courrier« einen Augenzeugenbericht seines Sonderkorrespondenten an der Ostfront: »Die Lage wird nicht nur durch die erbitterten Kämpfe der regulären Truppen gekennzeichnet, sondern leider auch durch Verstümmelung und Hinrichtung der Gefangenen und die fast vollständige Ausrottung der deutschen bäuerlichen Bevölkerung.« Die Zahl der Opfer wird verschieden angegeben. Man kann davon ausgehen, daß zwischen 50 und 80 Zivilisten getötet wurden. Aber sehr viel Blut war vorher von den Deutschen in der Sowjetunion und in Polen vergossen worden. Die Hetzparolen von sowjetischen Schriftstellern gössen weiteres Öl ins Feuer. So ließ sich Ilja Ehrenburg in einem Flugblatt zu der Äußerung hinreißen: »Die Deutschen sind keine Menschen. Von jetzt ab ist das Wort >Deutscher< für uns der allerschlimmste Fluch ... für uns gibt es nichts Lustigeres als deutsche Leichen.« Ähnlich schrieb er in der Soldatenzeitung »Krasnaja Swesda« am 24. Oktober 1944: »Wir befinden uns in der Heimat Erich Kochs, des Statthalters der Ukraine - damit ist alles gesagt. Wir haben es oft genug wiederholt: Das Gericht kommt! Jetzt ist es da.« Und: »Es genügt nicht, die Deutschen nach Westen zu treiben. Die Deutschen müssen ins Grab hineingejagt werden. Gewiß ist ein geschlagener Fritz besser als ein unverschämter. Von allen Fritzen aber sind die toten die besten.«

Auch die Schriften Alexej Tolstojs, Simonows, Surkows und vieler anderer hatten großen Einfluß auf die Moral der Truppe. Drei Monate später, während der erfolgreichen Januar-Offensive, schrieb ein sowjetischer Berichterstatter angesichts des brennenden Insterburg: »Es gibt kaum ein erziehenderes Schauspiel als eine brennende feindliche Stadt. Man sucht in seiner Seele nach einem Gefühl, das dem Mitleid ähnlich wäre, doch man findet es nicht. . . Brenne, Deutschland, du hast es nicht besser verdient. Ich will und werde dir nichts von dem verzeihen, was uns angetan wurde durch dich . . . Brenne, verfluchtes Deutschland.«

Als deutlicher Gegensatz zu diesen Parolen für die Soldaten liest sich Stalins Tagesbefehl Nummer 5 5, mit dem er die Welt zu beruhigen suchte: »Manchmal wird darüber geschwätzt, daß die Rote Armee das Ziel habe, das deutsche Volk auszurotten ... Es wäre lächerlich, die Hitler-Clique dem deutschen Volke, dem deutschen Staate gleichzusetzen. Die Erfahrungen der Geschichte besagen, daß die Hitler kommen und gehen, aber das deutsche Volk, der deutsche Staat bleibt.« Worte der Vernunft, wenn man hier Stalin ernstnehmen könnte, und doch wirken sie nur wie eine klägliche Arabeske am Rande der harten Realität des Krieges in Ostdeutschland.

Denn was in Nemmersdorf im Oktober 1944 passierte, wiederholte sich in unzähligen Dörfern Ostpreußens, Pommerns und Schlesiens in den letzten Monaten des Krieges. So z. B. in Metgethen, einem Vorort von Königsberg, der vom 29. Januar bis 19. Februar 1945 in russischer Hand war, dann von der deutschen 5. Panzer-Division und 1. Infanterie-Division wieder befreit wurde. Dort wurden 32 Zivilisten auf einem eingezäunten Tennisplatz zusammengetrieben und durch eine elektrisch gezündete Mine in die Luft gesprengt. Etliche Frauen wurden vergewaltigt, dann getötet.

Was sich dort abgespielt hat, wurde von Gauleiter Koch in allen Einzelheiten durch Flugblätter bekanntgegeben, um die Bevölkerung zu verzweifeltem Widerstand anzustacheln. Zusätzlich ließ Goebbels den »Durchhalte-Film« Kolberg nach Königsberg fliegen, um ihn dort überall zu zeigen. Der 1943 gedrehte Veit-Harlan-Film stellt das Schicksal der Bewohner der pommer-schen Stadt Kolberg dar, die unter Führung von Gneisenau und Nettelbeck im preußisch-französischen Krieg von 1806/07 ihre Stadt auch dann den napoleonischen Truppen nicht übergaben, als das geschlagene preußische Heer nach Ostpreußen floh.

Die Ereignisse, die sich beim Einmarsch der Roten Armee abspielten, stellen zweifellos den tiefsten Punkt der Erniedrigung dar, die die Ostdeutschen erleben mußten. Alexander Solschenizyn, damals ein junger Hauptmann der Roten Armee, schildert den Einmarsch seines Regiments in Ostpreußen im Januar 1945: »Nach drei Wochen Krieg in Deutschland wußten wir Bescheid: Wären die Mädchen Deutsche gewesen - jeder hätte sie vergewaltigen, danach erschießen dürfen, und es hätte fast als kriegerische Tat gegolten . . .« Noch eindrucksvoller beschrieb er eine Szene in Neidenburg in seiner Dichtung »Ostpreußische Nächte«:

»Zweiundzwanzig, Höringstraße.
Noch kein Brand, doch wüst, geplündert.
Durch die Wand gedämpft - ein Stöhnen:
Lebend finde ich noch die Mutter.
Waren's viel auf der Matratze? Kompanie? ein Zug?
Was macht es! Tochter - Kind noch, gleich getötet.
Alles schlicht nach der Parole:
NICHTS VERGESSEN!
NICHTS VERZEIH'N! BLUT FÜR BLUT!
Und Zahn für Zahn.
Wer noch Jungfrau, wird zum Weibe,
und die Weiber - Leichen bald.
Schon vernebelt, Augen blutig, , bittet:
>Töte mich, Soldat!<«

Solschenizyn setzte sich gegen eine solche Behandlung Unschuldiger ein und wurde deswegen verhaftet  und nach GULAG verbannt. Das gleiche passierte dem Major Lew Kopelew. Doch in seiner »Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges« schrieb Professor Boris Telpuchowski vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der KPdSU: »Das Benehmen der Sowjetsoldaten, der Zöglinge der KP, zur deutschen Bevölkerung war menschlich.«

Doch Tausende von Frauen, die nicht mehr fliehen konnten, haben den Freitod den Vergewaltigungen und Mißhandlungen vorgezogen. Geradezu erschreckend ist die Zahl der Selbstmorde in Ostpreußen, Pommern und Schlesien. Frau E. S. aus Rössel in Ostpreußen berichtet: »Etwa am 20. Februar 1945 kamen feste Verbände nach Rössel. . . Tag und Nacht wurde geplündert. Die Vergewaltigungen nahmen kein Ende. Viele Frauen, z. B. Frau B., baten Dr. N. vom Krankenhaus um Gift. Er gab es nicht. Unter den von wüsten Männern viehisch Mißhandelten befanden sich Kinder von 13-14 Jahren, so die 14jährige Tochter von W. F. und die 13jährige Tochter von Kaufmann V. M. Meine Freundin E. W. wurde von russischen Soldaten zu ihrer Mutter gebracht, sie konnte vor Schwäche nicht mehr gehen und war lange krank.

Ein Mädel aus der Siedlung konnte die Vergewaltigungen nicht mehr ertragen, nahm Essigessenz und starb unter furchtbaren Schmerzen. Ein anderes Mädel hängte sich aus demselben Grunde auf, eine Flüchtlingsfrau ebenfalls.« Vielen Berichten gemeinsam ist der Hinweis auf betrunkene Soldaten. Denn überall wurden Alkoholvorräte gefunden, in privaten Kellern, in Schnapsbrennereien.

Ein weiteres Beispiel der sinnlosen Tötung von Zivilisten liefert Hans Graf von Lehndorff, dessen Bruder und Mutter die Flucht als aussichtslos aufgaben und auf einem Gutshof bei Altmark in Westpreußen auf die Russen warteten. Am 25. Januar gegen Abend waren sie da: »In dem Durcheinander . . . wurde mein Bruder mit dem Messer schwer verletzt. Meine Mutter konnte ihn noch notdürftig verbinden. Dann kamen andere Russen, fragten wer er sei, und erschossen ihn dann mit meiner Mutter zusammen.«

Die Trecks .,,,.,, .

Spätestens am 22. Januar war der Zugverkehr von Ostpreußen nach dem Reich auf allen Strecken gesperrt. Auch die Trecks kamen nicht mehr durch, denn am 26. Januar wurde Ostpreußen bei Elbing abgeschnürt; damit war die Flucht von Osten nach Westen nicht mehr möglich. Die auf dem Weg befindlichen Trecks mußten nach Norden ausweichen. Der Kreis schloß sich immer enger.

Am 21. Januar fiel Allenstein, am 26. Januar Rastenburg, am 28. Januar Sensburg und Rössel. Die Trecks strömten nach Norden zum Frischen Haff, in die Kreise Pr. Eylau, Heilsberg, Braunsberg und Heiligenbeil. Der Weg über vereiste Straßen und durch tosende Schneestürme war nicht leicht. Die Frauen mußten es allein schaffen, denn die Männer waren beim Volkssturm. Die Pferde glitten immer wieder aus, Wagen brachen zusammen. Es fehlte an Nahrungsmitteln, vor allem an Milch für die Kleinkinder.

Wieviel schwere Arbeit, Last und Not haben die ostdeutschen Frauen bei den Flüchtlingstrecks getragen! Glücklich waren diejenigen, die hilfsbereite französische und belgische Kriegsgefangene zur Unterstützung hatten. Diese hatten meistens über vier Jahre in Betrieben oder auf dem Lande gearbeitet. Als die Stunde der Flucht kam, entschlossen sich viele, mit nach Westen zu ziehen, anstatt sich von den russischen Soldaten befreien zu lassen. Dankbare Ostpreußen haben in vielen Berichten solche Hilfeleistung gewürdigt: »Mit zwei Wagen, von denen der Franzose den einen und meine Tochter den anderen fuhr, begaben wir uns auf die Flucht über das Haff. Das Eis war in dieser Zeit schon sehr morsch und brüchig geworden, und auf der Fahrt sah man viele Stellen, wo Flüchtlinge mit bis aufs Haff geretteten Sachen untergegangen waren. Auch hier hat er alle Schwierigkeiten, die uns an der Flucht hinderten, beseitigt. . .«

Als in vielen Fällen die Trecks von den Russen überrollt wurden, waren es die französischen und belgischen Kriegsgefangenen, die die Frauen vor Belästigungen schützten. »Sie kamen in Gruppen mit Karren und Handwagen, und wenn sie merkten, daß die Russen über uns herfallen wollten, nahmen sie uns in die Mitte ihrer Kolonne.« Immer wieder gaben Kriegsgefangene junge deutsche Mädchen als ihre Ehefrauen aus.

Zum Drama der Flucht gehören zahllose Szenen der Verzweiflung und Not. Geradezu katastrophal gestaltete sich die Flucht der Ostpreußen über das Frische Haff und die Nehrung. Das Eis war brüchig. Stellenweise mußten die Flüchtlinge sich durch 25 Zentimeter hohes Wasser hindurchschleppen. Mit Stöcken tasteten sie die Fläche vor sich ab. Zahllose Bombentrichter zwangen sie zu Umwegen. Häufig rutschte man aus und glaubte sich bereits verloren. Die Kleider, völlig durchnäßt, ließen nur schwerfällige Bewegungen zu. Aber die Todesangst vertrieb die Frostschauer, die über den Körper jagten. Die Bauersfrau I. S. aus Großroden, Kreis Tilsit in Ostpreußen, erlebte, wie ihr Treck von Tieffliegern angegriffen wurde: »Die Bomben schlugen Löcher, und ganze Reihen von Wagen gingen unter. Wir hatten keinen Lebensmut und warteten sehnsüchtig auf den Tod . . . Als dieser Angriff beendet war, sind wir Überlebenden weitergefahren.«

Unterwegs auf der Nehrung wurden Frauen im Wagen entbunden; und wenn das letzte Stück Brot bereits verzehrt war, suchten die Flüchtlinge noch überall nach Essen. Und noch viel schlimmer als der Hunger war der Durst. Aber Wasser durfte wegen Typhusgefahr nicht getrunken werden.

Die Straße über die Nehrung war so schmal, daß zwei Wagen nebeneinander nur ganz knapp Platz hatten. Zur Linken schimmerte die Eisfläche des Haffs, zur Rechten war Wald. Bereits ein Drittel der Wagen war auf dem Eis liegen geblieben, ein weiteres Drittel ging auf der Straße kaputt. Wenn jemand einen Radbruch hatte, entwickelte sich ein Stau, der einige Stunden dauerte. Wieder ein Loch, wieder tiefster Schlamm, wieder eine Anhöhe! Ob man noch durchkommen würde? An manchen Tagen kam man nur drei bis fünf Kilometer vorwärts.

Die Flucht aus Danzig-Westpreußen und Pommern

Seit Ende Januar 1945 waren der Nordteil Westpreußens mit Danzig und der Halbinsel Hela sowie Ostpommern das Auffangbecken und der Durchmarschraum für die Flüchtlinge aus Ostpreußen und den westpolnischen Gebieten. Viele treckten weiter nach Pommern, ein Teil konnte mit der Eisenbahn von Danzig oder per Schiff das Reichsgebiet westlich der Oder erreichen. Abgesehen von diesen Flüchtlingen lebten zu dieser Zeit etwa drei Millionen Deutsche in dem Gebiet zwischen Ostpreußen und dem Unterlauf der Oder: 400 000 in Danzig selbst, 620 000 in Westpreußen und 1,6 Millionen in Ostpommern. Obwohl im Gegensatz zur Provinz Ostpreußen für Westpreußen seit dem Herbst 1944 detaillierte Räumungspläne aufgestellt worden waren, wurde ihre Ausgabe im Januar so lange verzögert, bis die Pläne durch die Ereignisse überholt waren. Nur in vereinzelten östlichen Kreisen wie Neumark wurde eine Evakuierung bereits am 18. Januar durchgeführt. Dagegen erhielten die Kreise Rosenberg und Marienwerder erst am 20. Januar Fluchterlaubnis, die Kreise Stuhm und Marienburg am 23. Januar. Russische Panzer erreichten diese Gebiete am 23. Januar auf ihrem Vorstoß nach Elbing und erfaßten mehrere Trecks noch östlich von Nogat und Weichsel.

Im Brennpunkt der Fluchtbewegung standen natürlich die Weichselübergänge bei Marienwerder und Dirschau sowie an der Nogat bei Marienburg. Erstaunlicherweise gelang es etwa 80 Prozent der in Elbing zusammengedrängten Menschen, nach Danzig und Pommern zu entkommen, bevor die Stadt am 10. Februar von sowjetischen Truppen eingenommen wurde. Zur gleichen Zeit flüchteten auch die Deutschen aus Graudenz, Thorn und Bromberg. Die Wege waren überall verstopft und die Weichselbrücken den Wehrmachtskolonnen vorbehalten, so daß die Trecks über das Eis ziehen mußten. In diesen Gebieten befanden sich nicht nur die zahlreiche einheimische deutsche Bevölkerung, sondern auch die 300 000 umgesiedelten Volksdeutschen aus den baltischen Staaten, aus Wolhynien und Bessarabien. Am 25. Januar wurde die Festung Posen eingeschlossen, allerdings erst nachdem ein Großteil der deutschen Bevölkerung per Eisenbahn evakuiert worden war. Am 23. Februar mußte Posen kapitulieren.

Mittlerweile gelang es der deutschen Wehrmacht, in Pommern kleine Geländegewinne zu erzielen und einen Teil der deutschen Bevölkerung zu befreien. So berichtete der Bauer A. S. aus Schlagenthin, Kreis Arnswalde, daß die Russen den Ort am 5. Februar besetzten, viele Bewohner erschossen und die Frauen vergewaltigt hatten. Als am 16. Februar jedoch schwere Kämpfe einsetzten, rückten die Russen ab. Etwa 150 Personen flohen sofort zur deutschen Front, aber über 700 blieben zurück, die am nächsten Tag wieder von den Russen erfaßt und zum Teil verschleppt wurden.

Im Monat Februar veränderte sich die Front kaum, die entlang der Linie Graudenz-Zempel-burg-Märkisch Friedland-Stargard-Pyritz verlief. Diese vierwöchige Kampfpause wurde weitgehend nicht ausgenützt, um zu fliehen, denn die Einheimischen sowie viele Flüchtlinge aus Ost-und Westpreußen ließen sich durch die relative Ruhe dazu verleiten, in diesen Gebieten zu bleiben. Hinzu kommt, daß die Parteibehörden für ganz Pommern und das nördliche Westpreußen die Flucht der Bevölkerung ausdrücklich verboten und in einigen Fällen die Weiterfahrt der aus Osten kommenden Trecks ebenfalls untersagten. Deshalb waren mindestens 2,5 Millionen Deutsche, ein Viertel davon Flüchtlinge, in Pommern und Danzig, als der neue russische Angriff in den ersten Märztagen begann. Binnen zwei Wochen nahmen die sowjetischen Armeen - unterstützt von der 1. polnischen Armee - ganz Ostpommern in Besitz. Sie erreichten die Odermündung bei Stettin und schnitten die Fluchtwege ab. Viele treckten in Richtung Kolberg, um von dort aus entweder mit dem Schiff oder an der Ostseeküste entlang über nach Gnadenfrei, dann nach Liegnitz und Görlitz nehmen. Unter den Flüchtlingen am Bahnhof herrschte Panikstimmung. Vor den Zugtüren stauten sich die Massen. Einer riß den anderen von der Tür. Kinder wurden von ihren Müttern getrennt. Alte Frauen irrten umher ohne jedes Gepäck. Sie hatten den Verstand verloren und wußten nicht mehr ihren Namen und woher sie kamen. Das Deutsche Rote Kreuz und die NSV (Nationalsozialistische Volkswohlfahrt) taten, was sie konnten, um zu helfen. Als Mitte Februar die Russen den Ring um Breslau geschlossen hatten, waren noch etwa 200 000 Zivilpersonen in der Stadt. Durch die darauf folgenden Luftangriffe und Kampfhandlungen kamen schätzungsweise 40 000 um. Aber die Festung hielt. Erst am 6./7. Mai kapitulierte die Stadt: Zuvor war Gauleiter Hanke ausgeflogen worden.

Die Flüchtlinge im Westen

In den letzten Monaten des Krieges hatte sich etwa die Hälfte der ostdeutschen Bevölkerung nach Westen abgesetzt. Dort mußten sie das bittere Schicksal der Städter in Sachsen und Mecklenburg teilen. Viele, die alle Strapazen der Flucht überstanden hatten, starben unter den Bombenteppichen der angloamerikanischen Bomberverbände. Der verheerendste Angriff ereignete sich in der Nacht vom 13. zum 14. Februar 1945 auf Dresden. Die schöne Barockstadt war mit etwa 600 000 schlesischen Flüchtlingen vollgestopft; viele waren in Eisenbahnzügen, andere mit Trecks gekommen, sie hatten kampiert, wo immer es möglich war, und hofften, in Dresden nur so lange zu bleiben, bis sie nach Schlesien zurückkehren konnten. In den mehr als fünf Kriegsjahren war Dresden von Luftangriffen verschont geblieben, gewiß nicht aus humanitären Erwägungen, sondern weil hier keine

wichtigen militärischen Objekte einen Angriff rechtfertigten. Natürlich hatte Dresden einen Bahnhof, von dem aus sich die Bahnlinien in viele Richtungen verzweigten. Die Zerstörung des Bahnhofs hätte einen strategischen Angriff rechtfertigen können, jedoch nicht Bombenteppiche in einer Zeit, in der Dresden - wie man auf alliierter Seite wußte - von Flüchtlingen überquoll.

Dann, um 22.00 Uhr am 13. Februar, erschien über Dresden eine Wolke britischer Bomber. Der erste Angriff wurde um 22.21 Uhr abgeschlossen. Hauptsächlich Phosphorbomben waren abgeworfen worden. Die Stadt brannte. Ein zweiter Angriff erfolgte um 1.30 Uhr am 14. Februar. Insgesamt waren l 400 britische Flugzeuge beteiligt. Und als ob dies nicht genug wäre, warfen um 12.12 Uhr noch 450 amerikanische Flugzeuge Bomben ab. Insgesamt wurden 3 430 Tonnen Brand- und Sprengbomben abgeworfen. Die begleitenden P-51 Jäger griffen im Tiefflug die Menschen auf den Straßen und die auf den Eibwiesen rastenden Flüchtlingstrecks an. 135 000 Menschen starben. 400 000 wurden obdachlos.

War dieser Angriff notwendig? Hat er die Beendigung des Krieges um einen einzigen Tag beschleunigt? Wie viele der Opfer waren schlesi-sche Flüchtlinge? 50 000? Vielleicht mehr. Gerhart Hauptmann, der schlesische Dichter aus Agnetendorf im Riesengebirge, befand sich im Sanatorium Weidner in Dresden-Loschwitz. Von dort aus sah er die brennende Stadt und sagte in Tränen: »In diesem Augenblick wollte ich sterben.« Später schrieb er: »Wer das Weinen verlernt hat, der lernt es wieder beim Untergang Dresdens . . . Ich stehe am Ausgang des Lebens und beneide alle meine toten Geisteskameraden, denen dieses Erlebnis erspart geblieben ist.« Aber nicht nur in Dresden, sondern in vielen anderen Städten und Dörfern sanken mittelalterliehe und barocke Kirchen und Schlösser in Schutt und Asche. Sie begruben unter sich Tausende ostdeutscher Flüchtlinge.

Die Flucht aus der Tschechoslowakei

In der Tschechoslowakei sah die militärische Lage anders aus als in Schlesien oder Ostpreußen. Bis zum Beginn des Jahres 1945 blieben das Sudetenland und das Protektorat Böhmen-Mähren von unmittelbaren Kriegseinwirkungen verschont. Erst die sowjetische Großoffensive vom 12. Januar 1945 bedrohte die östlichen sudetendeutschen Siedlungsgebiete. Die Heeresgruppe Mitte unter Generalfeldmarschall Ferdinand Schörner konnte die Offensive der 1. ukrainischen Front (Konjew) auffangen und den Durchbruch nach der Tschechoslowakei vereiteln. Ende März begann die Offensive der 4. ukrainischen Front (Petrow), die zusammen mit der 2. ukrainischen Front (Malinowski) nach Preßburg und Brunn stieß. Am 24. April fielen Troppau und Brunn. Doch blieben bis zur Kapitulation die größeren Teile des Sudetenlandes in deutscher Hand. Deshalb gab es in der Tschechoslowakei keine überstürzte Flucht wie z. B. aus Ostpreußen. Bereits im Februar 1945 wurde ein Eisenbahntransport mit etwa 600 Frauen und Kindern aus Warnsdorf im Nordsudetenland bis nach Bayern geleitet.

Ab März 1945 vollzog sich im Ostsudetenland eine geordnete Evakuierung unter günstigeren klimatischen Bedingungen, die deswegen wenige Opfer forderte. Die erste Evakuierungswelle erfaßte etwa 30 000 Sudetendeutsche. Als die Gefahr akuter wurde, versuchten Parteidienststellen, die Bauern zum Verlassen ihrer Höfe zu zwingen. Diese zögerten jedoch, angesichts des bevorstehenden deutschen Zusammenbruchs ihre Höfe zu verlassen. Ein Teil der Bevölkerung aus Südmähren entschloß sich im April 1945 zur Flucht ins niederösterreichische Waldgebiet. Der Hauptschuldirektor Matthias Krebs aus Neu-siedl, Kreis Nikolsburg, zog am 17. April 1945 mit einem großen Treck von 48 Wagen nach Großsiegharts und Thumeritz in Österreich, wo die Flüchtlinge bis zur Kapitulation bleiben konnten.

Viele Deutsche in den Sprachinseln Mährens, wie Mährisch-Ostrau und Olmütz, entschlossen sich, nach Böhmen zu ziehen; sie wurden meistens mit der Eisenbahn oder mit Autobussen nach Westen geschafft. Viele Evakuierte sind dann vom Ausbruch des tschechischen Aufstandes am 5. Mai 1945 überrascht worden. Besonders hart war das Schicksal derjenigen, die sich in innertschechischem Gebiet befanden. Sie wurden mißhandelt, beraubt und die Männer häufig interniert. Viele versuchten heimzukehren und fanden ihre Wohnungen und Höfe entweder ausgeplündert oder beschlagnahmt und von Tschechen besetzt vor. Manchmal fanden sie bei Nachbarn oder Verwandten Unterkunft, oder sie wurden gleich in eines der zahlreichen Lager eingewiesen.

Andere versuchten, nach Westen zu den Amerikanern zu flüchten. Die amerikanische 3. Armee unter General George S. Patton hatte nämlich die Westtschechoslowakei bis zur Linie Karls-bad-Pilsen-Budweis besetzt. Dort kam es allerdings nicht zu Plünderungen, Vergewaltigungen oder sonstigen Drangsalierungen bei der Besetzung. Aus den Berichten ist zu entnehmen, daß die Bevölkerung trotz der Unannehmlichkeiten einer feindlichen Besetzung aufatmete und eine baldige Normalisierung erhoffte. Als sie dann von den Potsdamer Beschlüssen über die Zwangsaussiedlung erfuhren, entschlossen sich einzelne sudetendeutsche Familien, der Vertreibung zuvorzukommen und mit Hilfe der Amerikaner sogar Haushalt und Möbel auf Heeresfahrzeugen nach Bayern zu retten.

Die Rückkehr

Das Kapitel über die Flucht darf nicht abgeschlossen werden, ohne zu erwähnen, daß Millionen von Flüchtlingen, die in den ersten Monaten des Jahres 1945 ihre Heimat in Ostdeutschland verließen, fest davon überzeugt waren, daß sie bald wieder, wenn der Krieg endlich vorbei sei, in ihre Wohnorte zurückkehren könnten. Im April 1945 betrug die deutsche Bevölkerung in den Ostprovinzen etwa 4 400 000 Menschen. Bis zum Juli 1945 waren l 125 000 Flüchtlinge zurückgekehrt, weil sie die Härten des verlorenen Krieges lieber in der Heimat durchstehen wollten. Sie ahnten nicht, daß sie wieder vertrieben werden würden. Andere hatten von der alliierten Entscheidung, die Deutschen auszuweisen, gerüchteweise gehört, sie begriffen aber nicht, daß die 700 Jahre alten ostdeutschen Siedlungen von heute auf morgen zerschlagen werden sollten.

Die Rückkehr spielte sich in verschiedenen Phasen ab. Die ersten, die zurückkehrten, waren die Flüchtlinge, die vom raschen sowjetischen Vormarsch abgeschnitten worden waren. Bereits in den letzten Januartagen 1945 kehrten viele Ostpreußen in die heimatlichen Orte zurück. Dann folgten eine zweite Welle der Rückwanderung im März und eine dritte nach der Kapitulation am 7./8. Mai 1945.

Die ostdeutschen Flüchtlinge, die in Mitteldeutschland Zuflucht gefunden hatten - in Sachsen, Mecklenburg, Brandenburg und Westpommern - hatten ihre Heimatorte vor der Roten Armee verlassen, ohne dem Regime der Sowjets entkommen zu sein. Deshalb wollten sie ihr weiteres Schicksal lieber in der Heimat abwarten, zumal sich die russischen Truppen nach der Kapitulation sehr viel disziplinierter zeigten als vorher. Die russischen Militärbefehlshaber und die in den einzelnen Orten eingerichteten Kommandanturen verhielten sich zur Rückkehr der Flüchtlinge durchaus nicht einheitlich. In vielen Fällen wurden Trecks sofort zur Umkehr gezwungen, oder es wurde ihnen die Erlaubnis zur Rückkehr erteilt. In anderen Fällen registrierte man sie und behandelte sie wie die einheimische Bevölkerung.

Der Bauer Paul Ewert aus Montauerweide, Kreis Stuhm in Westpreußen, war bis Lauenburg in Pommern geflohen, wo sein Treck im März 1945 überrollt worden war: »Mitte Mai wurde uns mitgeteilt, daß Güterzüge über Lauenburg, Neustadt, Danzig, Thorn nach Rußland führen und Flüchtlinge in die Heimat mitnähmen. Nähere Erkundigungen bei der russischen Kommandantur in Lauenburg bestätigten dies. Nach Entrichtung von 10 RM pro Erwachsener bekamen wir einen Ausweis in russischer und polnischer Sprache und fuhren am 29. Mai von Lauenburg ab . . . Bei unserer Ankunft waren bereits zurückgekehrt bzw. kehrten im Laufe des Sommers 97 Personen (von ursprünglich 362 Einwohnern) zurück.«

Es scheint, daß vor der Potsdamer Konferenz die russischen Militärbefehlshaber keine Anweisungen über die geplante Vertreibung der Deutschen erhalten hatten. Es war zunächst militärisch sinnvoll, Flüchtlingsansammlungen zu vermeiden und eine bessere Kontrolle der Bevölkerung dadurch zu erreichen, daß jeder in sein Heimatgebiet zurückkehrte. Insgesamt gesehen war die sowjetische Haltung undurchsichtig und widerspruchsvoll, denn manchmal haben die Russen die von den polnischen Behörden schon vor der Potsdamer Konferenz begonnenen Ausweisungsaktionen in Einzelfällen behindert, in den meisten Fällen aber gebilligt. Tausende von Flüchtlingen hatten jedenfalls den Rückweg angetreten, und viele konnten über die Oder und Neiße nach Osten gehen. Ende Juni/Anfang Juli 1945 wurde an den Übergängen über die Oder und Neiße der Weg für die Rückkehr gesperrt. Besonders im Raum von Görlitz entstand hierbei eine große Verwirrung. Am westlichen Ufer und in der Stadt Görlitz staute sich der Rückwanderungsstrom, während Tausende der von den polnischen Verwaltungsbehörden zwangsweise Ausgetriebenen über die Neiße nach Westen kamen. Die Not stieg ins Unermeßliche. Elisabeth Erbrich aus Breslau erinnert sich: »Wieder nahmen sich viele Rückwanderer das Leben, weil sie die Kraft nicht mehr fanden, noch einmal in eine Ungewisse Zukunft und ohne Ziel zu wandern.« Aber die, die sich bereits östlich von Oder und Neiße befanden, konnten in vielen Fällen die Rückkehr fortsetzen, wenn sie nicht zur Zwangsarbeit rekrutiert wurden. Gleichgültig, ob es sich um Flüchtlinge oder Einheimische handelte, wurden die in den Dörfern und Städten angetroffenen Deutschen von sowjetischen Kommandeuren zur Beseitigung von Trümmern, Bestellung von Feldern, zum Abbau von Eisenbahngleisen sowie zu anderen Zwangsarbeiten herangezogen. Für manche Flüchtlinge dauerte es Wochen und Monate, bis sie ihre Heimat erreichten, und viele mußten erleben, daß der Rückweg die vorangegangene Flucht an Strapazen und Gefahren noch übertraf. Der Eisenbahnverkehr lag still, Trecks waren ihrer Pferde beraubt worden, Gepäckstücke waren restlos ausgeplündert. Die Rückkehrer zogen meistens zu Fuß durch abgebrannte Orte und über Landstraßen, wo noch die Leichen von Soldaten und Zivilisten verwesten. Es gab kein Deutsches Rotes Kreuz mehr, keine Hilfeleistung von deutschen Soldaten oder Regierungsstellen, keine amtliche Organisation. Hunger und Durst forderten neue Opfer. Sie fürchteten nicht nur die sowjetischen Truppen, sondern auch die polnische Miliz. Schätzungsweise sind bis Ende Juni 1945 etwa 400 000 Flüchtlinge aus der sowjetischen Besatzungszone wieder in ihre Heimat östlich der Oder und Neiße zurückgekehrt. Aus der Tschechoslowakei, wohin 1,6 Millionen Schlesier geflüchtet waren, kehrte etwa die Hälfte zurück. An der schlesisch-tschechischen Grenze konnten die Polen nicht wie an der Oder und Neiße den Rückkehrerstrom sperren, u. a. auch aus Rücksicht auf die Tschechen. Die teils völlig entleerten Dörfer und Städte Schlesiens füllten sich wieder mit Menschen, so daß die deutsche Bevölkerung Schlesiens im Juni 1945 wieder auf rund 2,5 Millionen angewachsen war. Auch in Ostpommern war der Anteil der noch unter russischer Besetzung im Lande befindlichen Einwohner relativ hoch; etwa 150 000 Ostpommern waren aus Mecklenburg und Vorpommern zurückgekehrt, die zusammen mit den Zurückgebliebenen und nicht mehr rechtzeitig Herausgekommenen rund eine Million Menschen zählten. Die Städte und Dörfer wiesen nun wieder durchschnittlich 50-60 Prozent der ehemaligen Einwohnerzahlen auf. In einigen Kreisen wie Beigard, Köslin, Neustettin, Dt. Krone, Friedeberg, Stolp und Lauenburg betrug die Einwohnerzahl teilweise über 75 Prozent des alten Standes.

Am niedrigsten war die Zahl der zurückgebliebenen oder zurückgekehrten Bevölkerung in Ostpreußen, man schätzt rund 800 000 Menschen, d. h. knapp ein Drittel der Bevölkerung im Jahr 1944. In den östlichen Kreisen wie z. B. im Regierungsbezirk Gumbinnen erreichte die deutsche Bevölkerung kaum 15 Prozent ihrer ehemaligen Höhe. In dem relativ kleinen Ostbrandenburg lebten im Juni 1945 rund 350 000 Menschen, die nicht rechtzeitig hatten fliehen können.

Angesichts dieser Einwohnerzahlen für die Gebiete östlich der Oder-Neiße-Linie im Sommer 1945 stimmt es merkwürdig, daß bei der fünften Sitzung der Potsdamer Konferenz am 21. Juli 1945 Stalin behauptete, daß nicht ein einziger Deutscher auf dem Territorium lebe, das Polen übergeben werden sollte. Die Provisorische Polnische Regierung wurde auch gebeten, ihre Ansichten zur Oder-Neiße-Grenze vorzutragen. Präsident Boleslaw Bierut sprach von nur 1,5 Millionen Deutschen in den fraglichen Gebieten, und sie würden »freiwillig ziehen, sobald die Ernte vorbei ist«. Damit wurden Churchill und Truman, die über die Zahl der noch umzusiedelnden Deutschen berieten, absichtlich getäuscht.

Churchill selbst hatte immer wieder gesagt, daß die Zahl der umzusiedelnden Deutschen in einem angemessenen Verhältnis zu den polnischen Umsiedlern aus den von Rußland annektierten Gebieten stehen müßte: »Wir konnten eine Ausweisung von ebenso vielen Deutschen akzeptieren, wie Polen aus Ostpolen östlich der Cur-zon-Linie übersiedelten, sagen wir zwei bis drei Millionen; doch eine Ausweisung von acht oder neun Millionen Deutschen . . . war zu viel und völlig falsch.« Bezüglich der Rückkehr von Deutschen in ihre Heimat sagte er: »Es konnte Polen nicht guttun, so viel zusätzliches Territorium zu gewinnen. Wenn die Deutschen es schon verlassen hatten, sollten sie zurückkehren dürfen. Wir wünschten keine breite deutsche Bevölkerung, die von ihren Nahrungsquellen abgeschnitten war. Die Ruhr lag in unserer Zone, und falls sich nicht genügend Nahrung für die Einwohner finden ließ, mußte es zu Zuständen wie in deutschen Konzentrationslagern kommen.« Doch die Westalliierten kontrollierten nicht die Gebiete, aus welchen die Deutschen umgesiedelt werden sollten. Erst später bemerkten sie das Täuschungsmanöver der Polen und der Russen, die verschwiegen, daß die angestrebte Vertreibung weitere 5,6 Millionen Menschen umfassen sollte. Erst im November 1945, als sich der

Alliierte Kontrollrat in Berlin um einen besseren Überblick bemühte, wurde klar, daß sehr viel mehr Deutsche, als vorher behauptet, noch in den Oder-Neiße-Gebieten lebten. Die Provisorische Polnische Regierung sprach nun von 3,5 Millionen. Dazu bemerkte Sir Orme Sargent in einem internen Bericht des britischen Foreign Office: »Genau so, wie wir in Potsdam von den Russen betrogen wurden, als sie behaupteten, daß nur 1,5 Millionen Deutsche östlich von Oder und Neiße geblieben seien, werden wir jetzt, wie ich fürchte, feststellen, daß es weit mehr Deutsche als die 3,5 Millionen sind, die der Kontrollkommission gemeldet wurden, selbst wenn man annimmt, daß bereits fünf Millionen nach Deutschland vertrieben worden sind.« Er sollte Recht behalten.

Reparationsverschleppte

Ein Sonderkapitel der Flucht bildet die Verschleppung deutscher Zivilpersonen zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion, denn gerade aus Angst vor diesen Deportationen ergriffen viele Ostdeutsche die Flucht.

Von den zurückgebliebenen oder unterwegs überrollten Ostpreußen, Pommern, Brandenburgern und Schlesiern wurden 218 000 verschleppt. Mehr als 100 000 kamen bei den Strapazen um oder erlagen der Kälte oder dem Hunger. Außer den Reichsdeutschen wurden auch Hunderttausende von Volksdeutschen aus Polen, Rumänien, Jugoslawien und Ungarn als sogenannte »Reparationsverschleppte« deportiert. Auch bei ihnen lag die Sterbeziffer um 45 Prozent.

Der Begriff »Reparationsverschleppte« besagt, daß die Siegermächte Reparationen aus Deutschland in der Form von Arbeitsleistungen forderten. Die Frage wurde auf der Jalta-Konfe-renz (4.-11. Februar 1945) erörtert und die Entscheidung in einem von Churchill, Roosevelt und Stalin unterzeichneten Protokoll vom 11. Februar 1945 festgehalten, wonach »Repara-tions in kind« anstelle von Geldreparationen aus Deutschland zu nehmen seien. Der Begriff »Re-parations in kind« wurde dahingehend definiert, daß Lieferungen aus der laufenden deutschen Produktion, Demontage deutscher Industrien und Verwendung deutscher Arbeitskräfte eingeschlossen waren. Eine Reparationskommission mit einem sowjetischen, einem amerikanischen und einem britischen Mitglied wurde in Moskau gebildet. Daher tragen die westlichen Alliierten auch die Mitverantwortung an dem Massensterben der deutschen Reparationsverschleppten. Die Verschleppungen begannen allerdings bereits vor der Konferenz von Jalta, also lange vor der Absprache mit den Westalliierten. Für die Volksdeutschen im rumänischen Banat und in Siebenbürgen begannen sie im Herbst 1944, für die Ostpreußen im Januar 1945. Im Gegensatz zu den Tötungen und Vergewaltigungen durch Angehörige der sowjetischen Truppen, die weitgehend Willkürhandlungen einzelner Soldaten und Offiziere waren, handelt es sich bei diesen Verschleppungen um eine systematisch betriebene Aktion, die von der obersten sowjetischen Führung geplant und einheitlich durch alle sowjetischen Armeen jenseits von Oder und Neiße durchgeführt wurde. Für die Organisation der Verschleppung waren die Heeresgruppen der Roten Armee zuständig. Die Deportationen begannen in den jeweils eroberten Gebieten im allgemeinen zwei bis drei Wochen nach der Besetzung. Es ging nicht darum, bestimmte Personen zu fassen, sondern eine möglichst große Zahl arbeitsfähiger Deutscher zusammenzutreiben. Jeder der vier sowjetischen Heeresgruppen war ein etwa gleich hohes »Verschleppungssoll« auferlegt worden. Zum Bereich der Heeresgruppe Tschernjakowski gehörte Ostpreußen bis zur Linie Elbing-Dt. Eylau. Hauptsammellager für die Deportationen war Insterburg. Insgesamt wurden 44 000 Personen verschleppt. Das Gebiet der Heeresgruppe Rokossowskij umschloß den westlichen Sektor Ostpreußens, ganz Westpreußen mit Danzig und den östlichen Zipfel Pommerns bis zur Linie Köslin-Flatow. In diesem Bezirk waren Ciecha-now, Soldau und vor allem Graudenz Sammellager und Verladebahnhof für 55 000 Deutsche. Südlich daran grenzte der Bereich der Heeresgruppe Schukow, der das westliche Polen, Ostbrandenburg und die westliche Hälfte Ostpommerns umschloß. Ausgangspunkt für die Transporte von 57 000 Deutschen waren Schwiebusin Brandenburg, Posen und Sikawa bei Lodz. Zum Bereich der Heeresgruppe Konjew gehörten ganz Schlesien und das südliche Polen. Hier wurden die meisten Deutschen zur Deportation festgenommen, etwa 62 000, mit Sammellagern in Beuthen und in Krakau. Die Umstände der Internierung und die Transporte in russischen Güterzügen waren erbärmlich. Männer von 17 bis 60 Jahren, Frauen von 15 bis 50 Jahren wurden erfaßt, wobei viele junge Mütter von ihren Kindern getrennt wurden. Nach der Ankunft in den Arbeitslagern mußten die erschöpften Menschen schwere körperliche Arbeiten leisten, so in Kohlengruben, Ziegeleien, Panzerfabriken, beim Kanalbau und im Steinbruch. Nur wenn sie sehr krank und arbeitsunfähig waren, wurden sie frühzeitig nach Deutschland zurückgeschickt. Die anderen folgten erst 1947, 1948, 1949 oder noch später. Von den Millionen Vertriebenen haben die »Reparationsverschleppten« am meisten gelitten, denn sie verloren nicht nur die Heimat, sondern leisteten jahrelang Sklavenarbeit, wie die Besiegten in der Zeit der ägyptischen Pharaonen. Rund die Hälfte dieser Sklaven des 20. Jahrhunderts ist umgekommen.

 

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