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Calamitas virtutis occasio (Seneca, De providentia, 4, 6)

 
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Jose Ayala Lasso, erster Hochkommissar für Menschenrechte (1994-1997). Auszüge aus der Ansprache zum Tag der Heimat, Berlin, am 6. August 2005

Vor zehn Jahren hatten Sie mich aus Anlaß des fünfzigsten Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkriegs und des Beginns der Vertreibung von 15 Millionen Deutschen aus ihrer Heimat im Osten eingeladen, an der Gedenkfeier am 28. Mai 1995 in der Frankfurter Paulskirche teilzunehmen....

Wir alle erinnern uns, daß der Krieg im ehemaligen Jugoslawien 1995 bereits Hunderttausende zu Flüchtlingen gemacht hatte - das Ergebnis einer als „ethnische Säuberung“ bekannt gewordenen Politik. Auch wenn dieser Begriff neu geprägt wurde, benennt er doch eine alte und besonders grausame staatliche Praxis, die Zivilbevölkerung zu terrorisieren und Männer, Frauen und Kinder zu zwingen, ihre Häuser zu verlassen und ins Unbekannte zu fliehen.

Der Krieg in Jugoslawien ist nun beendet, dennoch scheint die Welt keineswegs sicherer geworden zu sein, und noch immer sind Menschen den Grausamkeiten ungerechter Kriege und ungerechter Friedenslösungen ausgesetzt...

Von den kollektiven Rechten ist für uns natürlich das Recht auf Selbstbestimmung von besonderer Bedeutung. Bei der Entkolonialisierung in Asien und Afrika und der Abschaffung der Apartheid spielten die Vereinten Nationen eine wichtige Rolle. Andere kollektive Rechte einschließlich der Rechte von Minderheiten und des Rechts auf die eigene Heimat sind noch nicht vollständig umgesetzt. Das Recht auf die eigene Heimat ist allerdings nicht nur ein kollektives, sondern auch ein individuelles Recht und eine Grundvoraussetzung für die Ausübung zahlreicher bürgerlicher, politischer, wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechten.

Während meiner Amtszeit als Hochkommissar für Menschenrechte hat die Unterkommission zur Förderung und zum Schutz der Menschenrechte eine wichtige Studie zur „Dimension der Menschenrechte bei Bevölkerungsumsiedlungen“ erarbeitet. Zur Diskussion dieser Studie wurde in Genf eine Expertenkonferenz unter Vorsitz des Berichterstatters der Unterkommission, Awn Shawkat Al Khasawneh, der heute Richter beim Internationalen Strafgerichtshof ist, abgehalten. Im Abschlußbericht der Unterkommission (E/CN.4/Sub.2/1997/23) zog Richter Al Khasawneh die Schlußfolgerung, daß das Recht auf die eigene Heimat ein grundlegendes Menschrecht ist und daß Staaten nicht das Recht haben, Menschen gewaltsam aus ihrer Heimat zu vertreiben. In der dem Bericht angefügten Erklärung heißt es (Art. 4, Abs. 1): „Jeder Mensch hat das Recht, in Frieden, Sicherheit und Würde in seiner Wohnstätte, in seiner Heimat und in seinem Land zu verbleiben.“ . Und weiter (Art. 8): „Jeder Mensch hat das Recht, in freier Entscheidung und in Sicherheit und Würde in das Land seiner Herkunft sowie innerhalb dessen an den Ort seiner Herkunft oder Wahl zurückzukehren.“

Auch wenn wir noch weit von der Erreichung dieser Ziele entfernt sind, auch wenn es in der Welt von heute Millionen von Heimatlosen gibt, ist es doch wichtig, diese Grundprinzipien zu bekräftigen und nach Mitteln und Wegen für ihre Umsetzung zu suchen. Aus diesem Grunde unterstütze ich auch die Idee, ein internationales Zentrum zum Kampf gegen Bevölkerungsumsiedlungen einzurichten, dessen Aufgabe nicht nur das Dokumentieren und Erforschen von Vertreibungen in der Vergangenheit sein soll, sondern das sich ebenfalls zum Ziel setzt, zukünftige Vertreibungen überall auf der Welt zu verhindern, indem es Aufklärung betreibt und das öffentliche Bewußtsein schärft für die Schrecken, die durch gewaltsame Bevölkerungsumsiedlungen entstehen, indem es Frühwarnstrategien entwickelt und die Maßnahmen der Vereinten Nationen auf diesem Gebiet unterstützt. Ich bin überzeugt, daß Berlin ein geeigneter Ort für solch ein Zentrum ist.

Ich glaube, daß wir aus dem Beispiel der deutschen Vertriebenen besonders viel lernen können. Wenn wir uns des Umfangs der Vertreibung und der Trauer über den Verlust von Gebieten bewußt werden, die für Menschen wie Immanuel Kant, Arthur Schopenhauer, Johann Gottfried Herder, Joseph von Eichendorff und andere Heimat waren, dann müssen wir gleichzeitig anerkennen, daß die Vertriebenen erhebliche Opfer gebracht haben, indem sie den Weg der friedlichen Integration wählten. Wir können nicht umhin, die moralische Stärke dieser Menschen und die Klugheit ihrer Führung zu bewundern, die jeglicher Art von Gewalt eine Absage erteilten und sich entschlossen, sich eine neue Heimat im Westen aufzubauen, ohne dabei die Liebe zu ihren Wurzeln aufzugeben, zu den Landschaften, in denen sie aufgewachsen sind, zu den Kirchen und Gotteshäusern, in denen sie beteten, zu den Friedhöfen, auf denen ihre Vorfahren begraben sind...

Als ehemaliger Hochkommissar für Menschenrechte würde ich hinzufügen, daß wir verpflichtet sind, diese Leiden zu mildern, Mitgefühl zu zeigen mit den Opfern von Vertreibung, sie bei der Bewahrung ihrer Kultur und Identität zu unterstützen, ihnen Hilfe zukommen zu lassen und, wenn möglich, die friedliche Rückkehr in ihr Heimatland zu ermöglichen. Das Recht auf das eigenen Heimatland ist, wie ich 1995 sagte, ein grundlegendes Menschenrecht, und die gesamte Weltgemeinschaft ist aufgerufen, dieses Recht zu achten. Wenn Menschen zum Verlassen ihrer Heimat gezwungen wurden, sollte ihnen die Möglichkeit gegeben werden zurückzukehren.

Allerdings kann es einander entgegenstehende Ansprüche auf dieselbe Heimat geben. Mit gutem Willen und internationaler Hilfe lassen sich solche Konflikte aber friedlich lösen, so daß alle, die ihre Wurzeln lieben, das Recht auf Heimat genießen können. Die Liebe zur Heimat ist in der Tat ein positiver Wert. Nur wer seine Heimat liebt, arbeitet daran, sie zu verschönen, sie zu einem besseren Ort für Kinder und Enkelkinder werden zu lassen und sie einzugliedern in das höhere Konzept der Weltsolidarität.

Vor sechzig Jahren versammelten sich die Siegermächte in Berlin, um die Welt nach dem Krieg zu planen. Auf der Potsdamer Konferenz diskutierten sie nicht nur die Herausforderungen des Friedensstiftens, sondern beschäftigten sich ebenfalls mit den enormen logistischen und humanitären Problemen, die durch die Vertreibung von Millionen von Menschen verursacht wurden - Deutsche aus Ostpreußen, Pommern, Schlesien, die vor den Angriffen der sowjetischen Armee geflohen waren, und weitere Millionen, die in ihrer Heimat geblieben waren und in jenem grausamen Sommer 1945 vertrieben wurden. Wir verneigen uns vor den Opfern der Nazi-Aggression im Osten. Gleichzeitig stehen wir dem Leiden von unschuldigen Männern, Frauen und Kindern aus Ostpreußen, Pommern Schlesien. Sudetenland und anderen Gebieten nicht blind gegenüber, die Opfer des ungerechten und unmoralischen Prinzips der kollektiven Bestrafung wurden ...

Lassen Sie mich abschließend auf den Gedanken der Menschenrechte eingehen ... Als Lateinamerikaner unterstütze ich mit allem Nachdruck die Ausübung aller Menschenrechte durch die indigenen Völker. Ein wichtiger Schritt in der langen Entwicklung des Menschenrechtskonzepts war der lang andauernde Disput innerhalb des Indienrates im Spanien des sechzehnten Jahrhunderts über die Frage, ob die indigenen Völker Amerikas als Menschen zu betrachten wären. Zwei Dominikaner, Bartolomé de las Casas und Antonio Montesinos, vertraten vor dem Habsburger Kaiser Karl V. die Auffassung, dass die indigenen Völker Menschen mit einer Seele und mit Rechten seien. Ihre entschiedenes Auftreten führte dazu, daß Gesetze zum Schutz der Rechte der indigenen Völker erlassen wurden, die ihrem Wesen nach Menschenrechtsgesetze waren. Auch wenn diese Gesetze ungestraft gebrochen wurden, so führten sie doch zu einem Bewußtsein für das, was richtig und was falsch ist. In diesem Sinne sollen wir uns daran erinnern, daß auch die indigenen Völker Amerikas ein Recht auf ihre Heimat hatten, daß sie gewaltsam ihrer Länder und ihres Eigentums beraubt und in sklavereiähnliche Verhältnisse gezwungen wurden. ...

Ich ermutige Sie, in Ihrem Engagement für die Menschenrechte nicht nachzulassen und weiter dafür zu wirken, daß alle Menschenrechte, und damit auch das Recht auf das eigene Heimatland, überall anerkannt und respektiert werden. Auf diese Weise werden wir zu einer neuen Weltordnung beitragen, die sich auf die Grundprinzipien der Würde und Gerechtigkeit für alle gründet.

 

Copyright ©2004 Alfred De Zayas. All contents are copyrighted and may not be used without the author's permission. This page was created by Nick Ionascu.