|
Ubi solitudinem faciunt, pacem appellant Make a wasteland and call it peace (Tacitus, Agricola, 30) |
|||||||
Home / Books / Articles-monographies-chapt. in books / Lectures & speeches / Interviews / Law& History - Thesen |
|
Thesen zur Vertreibung
2. Nach der Niederwerfung Polens im September 1939 wandten Hitler und
Stalin ähnliche Methoden zur dauerhaften Beherrschung ihres jeweiligen
Beuteanteils an. Hitler ließ etwa 650.000 Polen aus Gebieten Westpolens,
die in das Reich eingegliedert werden sollten, deportieren, wobei im Anschluß
daran dort verschiedene deutsche Volksgruppen nach ihrer Rückführung
aus der sowjetischen Einflußsphäre („Heim ins Reich“)
angesiedelt wurden. Währenddessen trachtete Stalin mittels Deportationen
antisowjetisch eingestellter Polen und durch die Ermordung der polnischen
militärischen Elite (Katyn, 1940) die Macht über das Gebiet
östlich der Ribbentrop-Molotow-Linie zu festigen. Im Ostfeldzug ab
1941 plante Hitler, im europäischen Teil der Sowjetunion große
deutsche Siedlungskomplexe durch Vertreibung der einheimischen Bevölkerung
zu schaffen. 3. Das, Prinzip der Zwangsumsiedlung wurde auf westlicher Seite zunächst
von dem tschechischen Exil-Politiker Eduard Benesch nach dem Münchener
Abkommen, noch vor Kriegsausbruch, befürwortet und im Laufe des Krieges
in seinen Gesprächen mit Stalin, Churchill und Roosevelt zu seinem
wesentlichen Kriegsziel aufgebaut. Zunächst waren davon nur einige
Hunderttausende Sudetendeutsche betroffen, die sich gegenüber dem
tschechischen Staat illoyal verhalten und – wie Benesch behauptete
– als Hitlers „Fünfte Kolonne“ betätigt hätten.
Allmählich erfaßte Beneschs Ausweisungsforderung immer mehr
Deutsche – unter Außerachtlassung jeglichen Schuldprinzips,
einfach um den tschechoslowakischen Staat künftig nicht mehr mit
einer nennenswerten deutschen nationalen Minderheit zu belasten. 4. Nachdem das Prinzip der Zwangsumsiedlung Volksdeutscher („illo-yale
Minderheiten“) von den Alliierten akzeptiert worden war, wurde es
im Zusammenhang mit der geplanten Westexpansion des polnischen Staates
auch auf Reichsdeutsche (keine Minderheiten) in den östlichen Provinzen
Deutschlands angewandt. An der Konferenz von Teheran (Nov.–Dez.
1943) führte Stalins Forderung, Polen östlich der Curzon-Linie
zu annektieren, zur Entscheidung, Polen im Westen auf Kosten Deutschlands
zu entschädigen. Mit der territorialen Entschädigung war auch
der Plan zur Aussiedlung der einheimischen deutschen Bevölkerung
verbunden, ohne daß sich direkte Bezüge zu den nationalsozialistischen
Vertreibungspraktiken im Osten feststellen ließen. 5. Die einschlägigen Akten im Public Record Office in London und
in den National Archives in Washington zeigen, daß die Experten
im Foreign Office und im State Department bis zu den Konferenzen von Jalta
und Potsdam dafür eintraten, die territorialen Entschädigungen
an Polen (zunächst nur Ostpreußen, dann maximal bis zur Oder)
und die damit verbundenen Umsiedlungen der Deutschen zu beschränken
(zwischen zweieinhalb und sieben Millionen) und sie durch eine sog. Population
Transfers Commission beaufsichtigen zu lassen, um einen stufenweise geordneten
Ablauf und eine Entschädigung für zurückgelassenes Eigentum
zu gewährleisten. Dabei stützten sich die Diplomaten auf den
Präzedenzfall des Bevölkerungsaustausches zwischen Griechenland
und der Türkei 1923 bis 1926, der unter Aufsicht des Völkerbundes
und auf der Basis des Lausanner Abkommens durchgeführt worden war. 6. Auf der Potsdamer Konferenz im Juli 1945 wurde zwar der bekannte Artikel
XIII über den Transfer der Deutschen angenommen, jedoch ist er häufig
falsch ausgelegt worden, wenn behauptet wird, daß die Anglo-Amerikaner
den Umfang der Umsiedlung befürwortet hätten. Im Gegenteil:
Artikel XIII stellt eine Notmaßnahme dar, die in höchster Eile
verfaßt und angenommen werden mußte, weil die nicht genehmigten,
wilden Vertreibungen aus der Tschechoslowakei, aus Polen und aus den deutschen
Ostgebieten eine völlig chaotische Situation in der amerikanischen
und der britischen Besatzungszone verursacht hatten, nicht zuletzt auch
in Berlin, wie in unzähligen amerikanischen und britischen Berichten
aus dieser Zeit belegt ist. Somit war Artikel XIII kein Blankoscheck für
die Vertreibersstaaten. Vielmehr bezweckte er zunächst ein Vertreibungsmoratorium
und die Übertragung der Zuständigkeit für Umfang und Zeitpunkt
des Transfers an den Alliierten Kontrollrat in Berlin. 7. Die amerikanische und die britische Regierung protestierten in Warschau
und Prag wiederholt wegen der inhumanen Behandlung der deutschen Bevölkerung
und der Nichteinhaltung der Richtlinien des Artikels XIII. 8. Die Umsiedlungen, die nach der Aufstellung eines Aufnahmeplans des
Alliierten Kontrollrates im November 1945 erfolgten, verliefen weniger
verlustreich. Jedoch urteilte 1950 die Walter-Kommission des amerikanischen
Repräsentantenhauses in einem ausführlichen Bericht über
die Vertreibung der Deutschen, daß keine Phase der Vertreibung als
human bezeichnet werden könne. 9. Ein noch schwereres Schicksal traf beinahe eine Million Verschleppter.
Nur 55 Prozent überlebten. Hier ist die anglo-amerikanische Mitverantwortung
gut belegbar, denn Churchill und Roosevelt akzeptierten am 11. Februar
1945 auf der Konferenz von Jalta das Prinzip, wonach deutsche Zwangsarbeit
als Kriegsentschädigung zugelassen wurde. Durch diesen gemeinsamen
Beschluß, der ebenfalls von Stalin unterzeichnet wurde, wurden Volksdeutsche
aus Rumänien, Jugoslawien und Ungarn und Reichsdeutsche aus Ostpreußen,
Pommern und Schlesien – Männer wie Frauen – zur Sklavenarbeit
in die Sowjetunion verschleppt, gewissermaßen als „lebende
Reparationen“. 10. Flucht, Vertreibung und Verschleppung haben über zwei Millionen
unschuldige Opfer das Leben gekostet – und dies zum Teil quasi als
Friedensmaßnahmen bzw. nach der deutschen Kapitulation. Ein solches
Ereignis muß von der Welt zur Kenntnis genommen werden – ohne
Polemik und ohne Vorwurf der Aufrechnung – eben als historisches
Faktum. In diesem Zusammenhang muß auch der Verzicht auf Gewalt
und Vergeltung in der Charta der Heimatvertriebenen vom August 1950 besonders
gewürdigt werden. Völkerrechtliche Thesen
2. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das als jus cogens anerkannt
wird, beinhaltet notwendigerweise das Recht auf die Heimat, denn man kann
nur das Selbstbestimmungsrecht ausüben, wenn man aus der Heimat nicht
vertrieben wird. 3. Die Vertreibung der Deutschen war völkerrechtswidrig. 4. Die Haager Landkriegsordnung von 1907 war im Zweiten Weltkrieg anwendbar.
Artikel 42–56 beschränken die Befugnisse von Okkupanten in
besetzten Gebieten und gewähren der Bevölkerung Schutz, insbesondere
der Ehre und der Rechte der Familie, des Lebens der Bürger und des
Privateigentums (Artikel 46), und verbieten Kollektivstrafen (Artikel
50). Eine Massenvertreibung ist mit der Haager Landkriegsordnung in keiner
Weise in Einklang zu bringen. Auch gemäß der „Martenschen
Klausel“ in der Präambel der IV. Haager Konvention von 1907
sind Vertreibungen rechtswidrig. 5. Vertreibungen waren im Jahre 1945 völkerrechtswidrig, auch in
Friedenszeiten, denn sie verletzen die Minderheitenschutzverträge,
die Polen und die Tschechoslowakei verpflichteten. 6. Die Rechtsprechung des Internationalen Militär-Tribunals in Nürnberg
verurteilte die Vertreibungen, die von den Nationalsozialisten durchgeführt
worden waren, als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit.
Das Völkerrecht hat per definitionem universale Geltung, und darum
stellten die Vertreibungsaktionen gegen die Deutschen, gemessen an denselben
Prinzipien, ebenfalls Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit
dar. 7. Artikel XIII des Potsdamer Protokolls konnte nicht und hat auch keine
Legalisierung der Vertreibung der Deutschen bewirkt. Die Alliierten hatten
keine unbeschränkte Verfügungsgewalt über das Leben der
Ostdeutschen. Auch wenn es ein „Interalliiertes Transferabkommen“
gegeben hätte (und Artikel XIII stellt kein solches Abkommen dar),
müßte es nach völkerrechtlichen Prinzipien beurteilt werden. 8. Nach dem Stand des heutigen Völkerrechts sind Zwangsumsiedlungen
völkerrechtswidrig. Artikel 49 der IV. Genfer Konvention über
den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten vom 12. August 1949 verbietet
Zwangsumsiedlungen. Sie sind ausnahmsweise nur dann gestattet, wenn zwingende
militärische Gründe zu dem einzigen Zweck, die Bevölkerung
zu schützen, eine Evakuierung erfordern. Solche Evakuierungen, die
sowieso nur vorübergehend sein dürfen, sind illegal, wenn sie
aus einer Lebensraumpolitik abgeleitet werden. 9. In Friedenszeiten verstoßen Vertreibungen gegen die UNO-Charta,
gegen die Menschenrechtserklärung vom 10. Dezember 1948 und gegen
die Menschenrechtspakte von 1966. Für die Unterzeichner des Vierten
Protokolls der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte
und der Grundfreiheiten gelten Artikel 3: „Niemand darf aus dem
Hoheitsgebiet des Staates, dessen Staatsangehöriger er ist, durch
eine Einzel- oder eine Kollektivmaßnahme ausgewiesen werden …“;
und Artikel 4: „Kollektivausweisungen von Fremden sind nicht zulässig.“ 10. In Kriegs- sowie Friedenszeiten stellen Vertreibung und Verschleppung
völkerrechtliche Verbrechen dar. Gemäß Artikel 8 des Statuts
des Internationalen Strafgerichtshofs gelten Vertreibungen als Kriegsverbrechen,
gemäß Art. 7 als Verbrechen gegen die Menschheit. 11. Vertreibung und Verschleppung können sehr wohl als Völkermord
bezeichnet werden, wenn die Absicht des Vertreiberstaates nachweislich
ist, eine Volksgruppe auch nur teilweise zu vernichten. Dies war zweifelsohne
die Absicht Beneschs, wie in seinen Reden und in den Benesch-Dekreten
ausreichend belegt. Dies ist auch die Auffassung führender Völkerrechtslehrer
u. a. Felix Ermacora und Dieter Blumenwitz. Somit erfüllte die Vertreibung
der Sudetendeutschen den Tatbestand des Völkermordes im Sinne der
UNO-Völkermordskonvention von 1948. Auch Teilaspekte der Vertreibung
der Deutschen aus Polen und Jugoslawien sind nachweislich Genozid. 12. Flüchtlinge und Vertriebene haben ein Recht auf Rückkehr sowie ein Recht auf Restitution (Siehe UNO-Unterkommission für Menschenrechte, Resolutionen 2002/30 und 2005/21 sowie der Schlußbericht der Unterkommission über Vertreibung und die Menschenrechte UN Doc E/CN. 4/Sub. 2/1997/23 und die Ausführungen des ersten UN-Hochkommissars für Menschenrechte Dr. José Ayala Lasso vom 28. Mai 1995 in Frankfurt a. M. und 6. August 2005 in Berlin). Schlußfolgerungen 1. Aller Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft muß mit Ehrfurcht
gedacht werden. Der Versuch, manche Verbrechen zu verharmlosen oder gar
zu verschweigen, verstößt nicht nur gegen das Ethos der Wissenschaft.
Er ist Hohn und Unbarmherzigkeit den Opfern gegenüber. 2. Die Vertreibung der Deutschen ist ein legitimer Gegenstand wissenschaftlicher
Forschung. Sie gehört zu den folgenschwersten Ereignissen der Zeitgeschichte,
weil durch sie ein in Jahrhunderten gewachsenes Zusammenleben von Slawen
und Deutschen ausgelöscht wurde. Daher kann sie nicht einfach aus
der gemeinsamen europäischen Erfahrung ausgeklammert werden. Trotzdem
existiert immer noch eine gewisse Tabuisierung dieser Thematik, die zwar
nicht die Forschung, wohl aber die offene Diskussion hemmt. Es ist einfach
eine Frage der historischen Vollständigkeit, sich auch diesem Kapitel
der Geschichte zu stellen. 3. Es ist die wissenschaftliche und moralische Pflicht des Historikers,
geschichtliche Vorgänge zu erforschen und darzustellen, indem er
die Fakten feststellt und sie in größere Zusammenhänge
einordnet. Es ist einer freien Gesellschaft und einer freien Wissenschaft
unwürdig, wenn man Zeithistorikern, die sich in seriöser Weise
mit politisch heiklen oder gar unerwünschten Themen befassen, unterstellt,
ihre Untersuchungen dienten der „Aufrechnung“ oder „Apologie“
von Verbrechen. Das Bild einer Epoche wird unweigerlich verfälscht,
wenn man um politischer Wirkungen willen bestimmte Teilbereiche ausblendet. 4. Die Vertreibung darf nicht als eine Frage von Schuld und Sühne
betrachtet werden. Die Aufgabe, die für Krieg und Kriegsverbrechen
Schuldigen zu bestrafen, war den Nürnberger Prozessen übertragen,
und sie stellten dazu ein neues völkerrechtliches Prinzip auf, das
der persönlichen Haftung von Politikern und Soldaten für ihre
Handlungen. Jedoch wurden 15 Millionen Deutsche vertrieben – oder
zur Flucht gezwungen, was faktisch dasselbe bedeutet – offensichtlich,
ohne nach ihrer persönlichen Schuld oder Unschuld zu fragen. Eine
Strafe, die von der Berücksichtigung persönlicher Schuld und
der Verhältnismäßigkeit der Mittel absieht, ist juristisch
und moralisch nicht vertretbar. 5. Es gibt keine Kollektivschuld. Der Gedanke der Kollektivschuld ist,
wie Victor Gollancz treffend feststellte, „ein unsinniger, unliberaler,
antichristlicher, beklagenswert nazistischer Gedanke“ (Stimme aus
dem Chaos, S. 320). Schuld ist, wie Unschuld, persönlich und eben
nicht kollektiv. Darum kann ein Prinzip der Kollektivschuld ebensowenig
für die Vertreibung wie für den Krieg selbst angewandt werden.
Es besteht jedoch sicherlich eine kollektive Sittlichkeit, die uns alle
zu humanem Umgang miteinander verpflichten sollte. 6. Es gibt keine humanen Zwangsumsiedlungen, dies ist ein Widerspruch
in sich, denn der erzwungene Verlust der Heimat kann nie human sein. 7. Die Erörterung der Vertreibung hat eine eminente Bedeutung für
die Gegenwart. Sie ist kein abgeschlossenes Kapitel der Geschichte, denn
es ereignen sich heute noch weitere Vertreibungen in der Welt, die von
der Völkergemeinschaft verurteilt werden müssen. 8. In der neuen Weltordnung, die nach dem Ende des Kalten Krieges im
Entstehen ist, braucht man vor allem historische Aufrichtigkeit und Objektivität.
Es ist zu hoffen, daß die neue Generation der Historiker aus Polen,
der Tschechischen Republik und der Russischen Föderation die Vertreibung
der Deutschen in ihrer geschichtlichen Tragweite – und Tragik –
und damit den eigenen Teil an Verantwortung erkennt und anerkennt. Gute
Nachbarschaft verlangt gegenseitige Offenheit und die Bereitschaft, die
eigenen Fehler zuzugeben. In der europäischen Union sollte dies selbstverständlich
sein. 9. Täter–Opfer: Es bedeute eine geschichtliche Klitterung
und sogar eine Verletzung der Menschenrechte, die deutschen Vertriebenen
als Täter zu diffamieren. Die Vertriebenen waren Opfer der Unmenschlichkeit
der Sieger – und heute sind sie oft Opfer der Diffamierung durch
die Medien und durch Zeitgeist-Historiker. Der absurden Täter- und
Opferschablone muß konsequent widersprochen werden. 10. Das Zentrum gegen Vertreibungen: Das Phänomen Vertreibung ist
kein ausschließlich deutsches Problem. Die Armenier und die Griechen
wurden im Ersten Weltkrieg vertrieben und massakriert. Griechische -Zyprioten
wurden 1974 in den Süden Zyperns verjagt. In den 90er Jahren wurden
Kosovaren, Bosnier und Kroaten durch Serben ethnisch gesäubert, Serben
wurden aus der Krajina vertrieben. Heute werden Menschen im Sudan (v.
a. in Darfur) vertrieben. Darum will das Zentrum gegen Vertreibungen in
Berlin alle Vertreibungen dokumentieren und erforschen, um den Opfern
zu gedenken und künftige Vertreibungen verhindern zu helfen. |
Copyright ©2004 Alfred De Zayas. All contents are copyrighted and may not be used without the author's permission. This page was created by Nick Ionascu. |