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Ubi solitudinem faciunt, pacem appellant
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Thesen zur Vertreibung


Historische Thesen


1. Der Begriff Vertreibung als terminus technicus beinhaltet nicht nur die gewaltsamen Vertreibungen vom Sommer und Herbst 1945, sondern auch die Evakuierung der deutschen Bevölkerung seitens der deutschen Behörden ab dem Herbst 1944, die allgemeine Flucht im Frühjahr 1945 sowie die organisierten Zwangsumsiedlungen ab 1946. Der Begriff Vertreibung muß so verstanden werden, weil sowohl die Evakuierten als auch die Geflüchteten beabsichtigten, nach Beendigung der Kampfhandlungen in ihre Wohngebiete zurückzukehren. Sie wurden jedoch von den sowjetischen und polnischen Behörden daran gehindert und eben deshalb zu Vertriebenen gemacht.

2. Nach der Niederwerfung Polens im September 1939 wandten Hitler und Stalin ähnliche Methoden zur dauerhaften Beherrschung ihres jeweiligen Beuteanteils an. Hitler ließ etwa 650.000 Polen aus Gebieten Westpolens, die in das Reich eingegliedert werden sollten, deportieren, wobei im Anschluß daran dort verschiedene deutsche Volksgruppen nach ihrer Rückführung aus der sowjetischen Einflußsphäre („Heim ins Reich“) angesiedelt wurden. Währenddessen trachtete Stalin mittels Deportationen antisowjetisch eingestellter Polen und durch die Ermordung der polnischen militärischen Elite (Katyn, 1940) die Macht über das Gebiet östlich der Ribbentrop-Molotow-Linie zu festigen. Im Ostfeldzug ab 1941 plante Hitler, im europäischen Teil der Sowjetunion große deutsche Siedlungskomplexe durch Vertreibung der einheimischen Bevölkerung zu schaffen.

3. Das, Prinzip der Zwangsumsiedlung wurde auf westlicher Seite zunächst von dem tschechischen Exil-Politiker Eduard Benesch nach dem Münchener Abkommen, noch vor Kriegsausbruch, befürwortet und im Laufe des Krieges in seinen Gesprächen mit Stalin, Churchill und Roosevelt zu seinem wesentlichen Kriegsziel aufgebaut. Zunächst waren davon nur einige Hunderttausende Sudetendeutsche betroffen, die sich gegenüber dem tschechischen Staat illoyal verhalten und – wie Benesch behauptete – als Hitlers „Fünfte Kolonne“ betätigt hätten. Allmählich erfaßte Beneschs Ausweisungsforderung immer mehr Deutsche – unter Außerachtlassung jeglichen Schuldprinzips, einfach um den tschechoslowakischen Staat künftig nicht mehr mit einer nennenswerten deutschen nationalen Minderheit zu belasten.

4. Nachdem das Prinzip der Zwangsumsiedlung Volksdeutscher („illo-yale Minderheiten“) von den Alliierten akzeptiert worden war, wurde es im Zusammenhang mit der geplanten Westexpansion des polnischen Staates auch auf Reichsdeutsche (keine Minderheiten) in den östlichen Provinzen Deutschlands angewandt. An der Konferenz von Teheran (Nov.–Dez. 1943) führte Stalins Forderung, Polen östlich der Curzon-Linie zu annektieren, zur Entscheidung, Polen im Westen auf Kosten Deutschlands zu entschädigen. Mit der territorialen Entschädigung war auch der Plan zur Aussiedlung der einheimischen deutschen Bevölkerung verbunden, ohne daß sich direkte Bezüge zu den nationalsozialistischen Vertreibungspraktiken im Osten feststellen ließen.

5. Die einschlägigen Akten im Public Record Office in London und in den National Archives in Washington zeigen, daß die Experten im Foreign Office und im State Department bis zu den Konferenzen von Jalta und Potsdam dafür eintraten, die territorialen Entschädigungen an Polen (zunächst nur Ostpreußen, dann maximal bis zur Oder) und die damit verbundenen Umsiedlungen der Deutschen zu beschränken (zwischen zweieinhalb und sieben Millionen) und sie durch eine sog. Population Transfers Commission beaufsichtigen zu lassen, um einen stufenweise geordneten Ablauf und eine Entschädigung für zurückgelassenes Eigentum zu gewährleisten. Dabei stützten sich die Diplomaten auf den Präzedenzfall des Bevölkerungsaustausches zwischen Griechenland und der Türkei 1923 bis 1926, der unter Aufsicht des Völkerbundes und auf der Basis des Lausanner Abkommens durchgeführt worden war.

6. Auf der Potsdamer Konferenz im Juli 1945 wurde zwar der bekannte Artikel XIII über den Transfer der Deutschen angenommen, jedoch ist er häufig falsch ausgelegt worden, wenn behauptet wird, daß die Anglo-Amerikaner den Umfang der Umsiedlung befürwortet hätten. Im Gegenteil: Artikel XIII stellt eine Notmaßnahme dar, die in höchster Eile verfaßt und angenommen werden mußte, weil die nicht genehmigten, wilden Vertreibungen aus der Tschechoslowakei, aus Polen und aus den deutschen Ostgebieten eine völlig chaotische Situation in der amerikanischen und der britischen Besatzungszone verursacht hatten, nicht zuletzt auch in Berlin, wie in unzähligen amerikanischen und britischen Berichten aus dieser Zeit belegt ist. Somit war Artikel XIII kein Blankoscheck für die Vertreibersstaaten. Vielmehr bezweckte er zunächst ein Vertreibungsmoratorium und die Übertragung der Zuständigkeit für Umfang und Zeitpunkt des Transfers an den Alliierten Kontrollrat in Berlin.

7. Die amerikanische und die britische Regierung protestierten in Warschau und Prag wiederholt wegen der inhumanen Behandlung der deutschen Bevölkerung und der Nichteinhaltung der Richtlinien des Artikels XIII.

8. Die Umsiedlungen, die nach der Aufstellung eines Aufnahmeplans des Alliierten Kontrollrates im November 1945 erfolgten, verliefen weniger verlustreich. Jedoch urteilte 1950 die Walter-Kommission des amerikanischen Repräsentantenhauses in einem ausführlichen Bericht über die Vertreibung der Deutschen, daß keine Phase der Vertreibung als human bezeichnet werden könne.

9. Ein noch schwereres Schicksal traf beinahe eine Million Verschleppter. Nur 55 Prozent überlebten. Hier ist die anglo-amerikanische Mitverantwortung gut belegbar, denn Churchill und Roosevelt akzeptierten am 11. Februar 1945 auf der Konferenz von Jalta das Prinzip, wonach deutsche Zwangsarbeit als Kriegsentschädigung zugelassen wurde. Durch diesen gemeinsamen Beschluß, der ebenfalls von Stalin unterzeichnet wurde, wurden Volksdeutsche aus Rumänien, Jugoslawien und Ungarn und Reichsdeutsche aus Ostpreußen, Pommern und Schlesien – Männer wie Frauen – zur Sklavenarbeit in die Sowjetunion verschleppt, gewissermaßen als „lebende Reparationen“.

10. Flucht, Vertreibung und Verschleppung haben über zwei Millionen unschuldige Opfer das Leben gekostet – und dies zum Teil quasi als Friedensmaßnahmen bzw. nach der deutschen Kapitulation. Ein solches Ereignis muß von der Welt zur Kenntnis genommen werden – ohne Polemik und ohne Vorwurf der Aufrechnung – eben als historisches Faktum. In diesem Zusammenhang muß auch der Verzicht auf Gewalt und Vergeltung in der Charta der Heimatvertriebenen vom August 1950 besonders gewürdigt werden.

Völkerrechtliche Thesen


1. Heimatrecht ist Menschenrecht.

2. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das als jus cogens anerkannt wird, beinhaltet notwendigerweise das Recht auf die Heimat, denn man kann nur das Selbstbestimmungsrecht ausüben, wenn man aus der Heimat nicht vertrieben wird.

3. Die Vertreibung der Deutschen war völkerrechtswidrig.

4. Die Haager Landkriegsordnung von 1907 war im Zweiten Weltkrieg anwendbar. Artikel 42–56 beschränken die Befugnisse von Okkupanten in besetzten Gebieten und gewähren der Bevölkerung Schutz, insbesondere der Ehre und der Rechte der Familie, des Lebens der Bürger und des Privateigentums (Artikel 46), und verbieten Kollektivstrafen (Artikel 50). Eine Massenvertreibung ist mit der Haager Landkriegsordnung in keiner Weise in Einklang zu bringen. Auch gemäß der „Martenschen Klausel“ in der Präambel der IV. Haager Konvention von 1907 sind Vertreibungen rechtswidrig.

5. Vertreibungen waren im Jahre 1945 völkerrechtswidrig, auch in Friedenszeiten, denn sie verletzen die Minderheitenschutzverträge, die Polen und die Tschechoslowakei verpflichteten.

6. Die Rechtsprechung des Internationalen Militär-Tribunals in Nürnberg verurteilte die Vertreibungen, die von den Nationalsozialisten durchgeführt worden waren, als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit. Das Völkerrecht hat per definitionem universale Geltung, und darum stellten die Vertreibungsaktionen gegen die Deutschen, gemessen an denselben Prinzipien, ebenfalls Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit dar.

7. Artikel XIII des Potsdamer Protokolls konnte nicht und hat auch keine Legalisierung der Vertreibung der Deutschen bewirkt. Die Alliierten hatten keine unbeschränkte Verfügungsgewalt über das Leben der Ostdeutschen. Auch wenn es ein „Interalliiertes Transferabkommen“ gegeben hätte (und Artikel XIII stellt kein solches Abkommen dar), müßte es nach völkerrechtlichen Prinzipien beurteilt werden.

8. Nach dem Stand des heutigen Völkerrechts sind Zwangsumsiedlungen völkerrechtswidrig. Artikel 49 der IV. Genfer Konvention über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten vom 12. August 1949 verbietet Zwangsumsiedlungen. Sie sind ausnahmsweise nur dann gestattet, wenn zwingende militärische Gründe zu dem einzigen Zweck, die Bevölkerung zu schützen, eine Evakuierung erfordern. Solche Evakuierungen, die sowieso nur vorübergehend sein dürfen, sind illegal, wenn sie aus einer Lebensraumpolitik abgeleitet werden.

9. In Friedenszeiten verstoßen Vertreibungen gegen die UNO-Charta, gegen die Menschenrechtserklärung vom 10. Dezember 1948 und gegen die Menschenrechtspakte von 1966. Für die Unterzeichner des Vierten Protokolls der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und der Grundfreiheiten gelten Artikel 3: „Niemand darf aus dem Hoheitsgebiet des Staates, dessen Staatsangehöriger er ist, durch eine Einzel- oder eine Kollektivmaßnahme ausgewiesen werden …“; und Artikel 4: „Kollektivausweisungen von Fremden sind nicht zulässig.“

10. In Kriegs- sowie Friedenszeiten stellen Vertreibung und Verschleppung völkerrechtliche Verbrechen dar. Gemäß Artikel 8 des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs gelten Vertreibungen als Kriegsverbrechen, gemäß Art. 7 als Verbrechen gegen die Menschheit.

11. Vertreibung und Verschleppung können sehr wohl als Völkermord bezeichnet werden, wenn die Absicht des Vertreiberstaates nachweislich ist, eine Volksgruppe auch nur teilweise zu vernichten. Dies war zweifelsohne die Absicht Beneschs, wie in seinen Reden und in den Benesch-Dekreten ausreichend belegt. Dies ist auch die Auffassung führender Völkerrechtslehrer u. a. Felix Ermacora und Dieter Blumenwitz. Somit erfüllte die Vertreibung der Sudetendeutschen den Tatbestand des Völkermordes im Sinne der UNO-Völkermordskonvention von 1948. Auch Teilaspekte der Vertreibung der Deutschen aus Polen und Jugoslawien sind nachweislich Genozid.

12. Flüchtlinge und Vertriebene haben ein Recht auf Rückkehr sowie ein Recht auf Restitution (Siehe UNO-Unterkommission für Menschenrechte, Resolutionen 2002/30 und 2005/21 sowie der Schlußbericht der Unterkommission über Vertreibung und die Menschenrechte UN Doc E/CN. 4/Sub. 2/1997/23 und die Ausführungen des ersten UN-Hochkommissars für Menschenrechte Dr. José Ayala Lasso vom 28. Mai 1995 in Frankfurt a. M. und 6. August 2005 in Berlin).

Schlußfolgerungen

1. Aller Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft muß mit Ehrfurcht gedacht werden. Der Versuch, manche Verbrechen zu verharmlosen oder gar zu verschweigen, verstößt nicht nur gegen das Ethos der Wissenschaft. Er ist Hohn und Unbarmherzigkeit den Opfern gegenüber.

2. Die Vertreibung der Deutschen ist ein legitimer Gegenstand wissenschaftlicher Forschung. Sie gehört zu den folgenschwersten Ereignissen der Zeitgeschichte, weil durch sie ein in Jahrhunderten gewachsenes Zusammenleben von Slawen und Deutschen ausgelöscht wurde. Daher kann sie nicht einfach aus der gemeinsamen europäischen Erfahrung ausgeklammert werden. Trotzdem existiert immer noch eine gewisse Tabuisierung dieser Thematik, die zwar nicht die Forschung, wohl aber die offene Diskussion hemmt. Es ist einfach eine Frage der historischen Vollständigkeit, sich auch diesem Kapitel der Geschichte zu stellen.

3. Es ist die wissenschaftliche und moralische Pflicht des Historikers, geschichtliche Vorgänge zu erforschen und darzustellen, indem er die Fakten feststellt und sie in größere Zusammenhänge einordnet. Es ist einer freien Gesellschaft und einer freien Wissenschaft unwürdig, wenn man Zeithistorikern, die sich in seriöser Weise mit politisch heiklen oder gar unerwünschten Themen befassen, unterstellt, ihre Untersuchungen dienten der „Aufrechnung“ oder „Apologie“ von Verbrechen. Das Bild einer Epoche wird unweigerlich verfälscht, wenn man um politischer Wirkungen willen bestimmte Teilbereiche ausblendet.

4. Die Vertreibung darf nicht als eine Frage von Schuld und Sühne betrachtet werden. Die Aufgabe, die für Krieg und Kriegsverbrechen Schuldigen zu bestrafen, war den Nürnberger Prozessen übertragen, und sie stellten dazu ein neues völkerrechtliches Prinzip auf, das der persönlichen Haftung von Politikern und Soldaten für ihre Handlungen. Jedoch wurden 15 Millionen Deutsche vertrieben – oder zur Flucht gezwungen, was faktisch dasselbe bedeutet – offensichtlich, ohne nach ihrer persönlichen Schuld oder Unschuld zu fragen. Eine Strafe, die von der Berücksichtigung persönlicher Schuld und der Verhältnismäßigkeit der Mittel absieht, ist juristisch und moralisch nicht vertretbar.

5. Es gibt keine Kollektivschuld. Der Gedanke der Kollektivschuld ist, wie Victor Gollancz treffend feststellte, „ein unsinniger, unliberaler, antichristlicher, beklagenswert nazistischer Gedanke“ (Stimme aus dem Chaos, S. 320). Schuld ist, wie Unschuld, persönlich und eben nicht kollektiv. Darum kann ein Prinzip der Kollektivschuld ebensowenig für die Vertreibung wie für den Krieg selbst angewandt werden. Es besteht jedoch sicherlich eine kollektive Sittlichkeit, die uns alle zu humanem Umgang miteinander verpflichten sollte.

6. Es gibt keine humanen Zwangsumsiedlungen, dies ist ein Widerspruch in sich, denn der erzwungene Verlust der Heimat kann nie human sein.

7. Die Erörterung der Vertreibung hat eine eminente Bedeutung für die Gegenwart. Sie ist kein abgeschlossenes Kapitel der Geschichte, denn es ereignen sich heute noch weitere Vertreibungen in der Welt, die von der Völkergemeinschaft verurteilt werden müssen.

8. In der neuen Weltordnung, die nach dem Ende des Kalten Krieges im Entstehen ist, braucht man vor allem historische Aufrichtigkeit und Objektivität. Es ist zu hoffen, daß die neue Generation der Historiker aus Polen, der Tschechischen Republik und der Russischen Föderation die Vertreibung der Deutschen in ihrer geschichtlichen Tragweite – und Tragik – und damit den eigenen Teil an Verantwortung erkennt und anerkennt. Gute Nachbarschaft verlangt gegenseitige Offenheit und die Bereitschaft, die eigenen Fehler zuzugeben. In der europäischen Union sollte dies selbstverständlich sein.

9. Täter–Opfer: Es bedeute eine geschichtliche Klitterung und sogar eine Verletzung der Menschenrechte, die deutschen Vertriebenen als Täter zu diffamieren. Die Vertriebenen waren Opfer der Unmenschlichkeit der Sieger – und heute sind sie oft Opfer der Diffamierung durch die Medien und durch Zeitgeist-Historiker. Der absurden Täter- und Opferschablone muß konsequent widersprochen werden.

10. Das Zentrum gegen Vertreibungen: Das Phänomen Vertreibung ist kein ausschließlich deutsches Problem. Die Armenier und die Griechen wurden im Ersten Weltkrieg vertrieben und massakriert. Griechische -Zyprioten wurden 1974 in den Süden Zyperns verjagt. In den 90er Jahren wurden Kosovaren, Bosnier und Kroaten durch Serben ethnisch gesäubert, Serben wurden aus der Krajina vertrieben. Heute werden Menschen im Sudan (v. a. in Darfur) vertrieben. Darum will das Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin alle Vertreibungen dokumentieren und erforschen, um den Opfern zu gedenken und künftige Vertreibungen verhindern zu helfen.

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