JUNGE FREIHEIT
9 JUNI 2006, SEITE 6
INTERVIEW DURCH MARCUS SCHMIDT
ETHNISCHE SAEUBERUNG UND VOELKERMORD
Interview: Der Völkerrechtler Alfred de Zayas zum Streit
um das Motto des Sudetendeutschen Tages und einen Auftrag an das
Goethe-Institut
Herr Professor de Zayas, das Motto des Sudetendeutschen Tages lautete
„Vertreibung ist Völkermord – Dem Recht auf Heimat
gehört die Zukunft“. Der Historiker Martin Schulze Wessel,
Co-Vorsitzender der Deutsch-Tschechischen Historikerkommission,
hat in der „Süddeutschen Zeitung“ dieses Motto
als „aggressiv“ bezeichnet und die Charakterisierung
der Vertreibung der Sudetendeutschen als Völkermord eine Übertreibung
genannt. Können Sie diese Kritik nachvollziehen?
De Zayas: Nein. Herr Schulze Wessel ist Historiker.
Namhafte Völkerrechtler wie Felix Ermacora und Dieter Blumenwitz
haben begründet, weshalb die Vertreibung der Sudetendeutschen
als Völkermord einzustufen ist. Ich bin sowohl Historiker als
auch Völkerrechtler und habe 22 Jahre in der Uno zu Fragen
der Menschenrechte und auch des Völkermords gearbeitet. Ich
teile das Urteil von Ermacora und Blumenwitz. Man bedenke, daß
die ethnischen Säuberungen im ehemaligen Jugoslawien vom Internationalen
Tribunal in Den Haag als Völkermord verurteilt worden sind.
Die Vertreibung der Deutschen war nachweislich härter und verlustreicher
als das Geschehen in Bosnien oder Kosovo. Nun, wieso soll das sudetendeutsche
Motto „aggressiv“ sein?
Schulze Wessel argumentiert, das Motto sei zu sehr auf die Vergangenheit
fixiert.
De Zayas: Die Opfer eines Mega-Verbrechens, wie
die Vertreibung es war, haben nicht nur das Recht, sondern eigentlich
eine moralische Verpflichtung, dieses Verbrechen beim Namen zu nennen.
Oder soll hier zwischen politisch korrekten und politisch inkorrekten
Opfern unterschieden werden? Die Sudetendeutschen waren Opfer eines
virulenten Rassismus, der bereits viele Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg
Tote und Verletzte forderte. Die Vertreibung zwischen 1945 und 1948
forderte vielleicht 200.000 Toten – nicht nur durch die Ausschreitungen
beim Brunner Todesmarsch und durch die vielen Massaker, sondern
auch durch die verheerenden Folgen der Vertreibung. Die Zerschlagung
der mehr als 700jährige Präsenz der Deutschen in Böhmen
und Mähren war nicht nur eine juristische, sondern auch eine
historische und moralische Tragödie.
Nach Ansicht von Schulze Wessel kann beim Holocaust und dem Völkermord
an den Armeniern zwischen Zwangstransfer und Genozid nicht getrennt
werden. Dies trifft seiner Meinung nach aber nicht auf das Schicksal
der Sudetendeutschen zu.
De Zayas: Nach der Völkermordkonvention von
1948 ist die „Absicht“ das entscheidende Moment. Völkermord
bedeutet also Handlungen, die in der Absicht begangen werden, „eine
nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche
ganz oder teilweise zu zerstören“. Die Benesch-Dekrete,
die Internierung Tausender Sudetendeutscher in Konzentrationslagern,
der Raub des Privateigentums und die Art und Weise der Durchführung
der Vertreibung belegen die Absicht Beneschs und der tschechoslowakischen
Regierung, die sudetendeutsche Volksgruppe zu zerstören. Wichtig
dabei ist die Tatsache, daß die gesamte Volksgruppe aus rassistischen
Gründen vertrieben wurde, also nur weil sie Deutsche waren.
Um als Völkermord zu gelten, ist es nicht nötig, daß
alle Mitglieder der Gruppe massakriert werden. Auch nicht alle Armenier,
nicht alle Juden, nicht alle Tutsis wurden ausgerottet.
Also können sich die Kritiker, die nicht in jeder Vertreibung
einen Völkermord sehen, nicht auf das Völkerrecht berufen?
De Zayas: Theoretisch ist nicht jede Vertreibung
zwangsläufig ein Völkermord. In der Praxis jedoch arten
Vertreibungen und ethnische Säuberungen in Völkermord
aus. Darüber hinaus stellt jede Vertreibung beziehungsweise
jede zwangweise Umsiedlung ein Verbrechen gegen die Menschheit dar.
Zuweilen bekommt man den Eindruck, daß die Kritiker des Mottos
meinen, wenn die Vertreibung nicht ganz Völkermord war, dann
war es nicht so „schlimm“. Diese Art Bagatellisierung
des Verbrechens halte ich für menschenverachtend. Immerhin
verstößt jede Vertreibung gegen die Haager Landkriegsordnung
von 1907 und gegen die Genfer Konvention von 1949. Mit gutem Grunde
werden Vertreibungen als Verbrechen gegen die Menschheit im Artikel
7 und als Kriegsverbrechen im Artikel 8 des Rom-Statuts des Internationalen
Strafrechtstribunals definiert.
Was besagt die Diskussion über den Informationsstand zur Vertreibung
in Deutschland?
De Zayas: In Deutschland besteht nach wie vor
ein Informationsdefizit. Noch schlimmer finde ich aber die intellektuelle
Unredlichkeit, die viele Politiker an den Tag legen, leider auch
Fachhistoriker und die Medien. Man diffamiert sogar die Vertreibungsopfer
als „Täter“. Wir sollen uns alle einig sein, daß
die Menschenrechte und das Völkerrecht gleichermaßen
für alle Staaten und Völker gelten. Darum sind alle Staaten
verpflichtet, die Normen des Völkerrechts konsequent anzuwenden,
ohne willkürliche Ausnahmen. Ein Staat gefährdet die Rechtssicherheit
und stellt die Glaubwürdigkeit der völkerrechtlichen Rechtsordnung
in Frage, wenn er zweierlei Maß anwendet. Völkermord
und Verbrechen gegen die Menschheit müssen stets verurteilt
werden, egal welche die Nationalität des Opfers ist. In meiner
Heimat, den Vereinigten Staaten, ist die Vertreibung weitestgehend
unbekannt, sogar unter Fachhistoriker. Die Goethe-Institute sollten
eine Informationsstrategie entwickeln, um dieses wichtige Kapitel
der deutschen Geschichte auch im Ausland angemessen zu behandeln.
Schließlich ist es eine Frage der Menschenrechte.
(Prof. Dr. Alfred de Zayas ist Völkerrechtler, ehemaliger
Sekretär des Uno-Menschenrechtsausschusses und Autor der Bücher
„Die Nemesis von Potsdam“ und „Heimatrecht ist
Menschenrecht“. Zudem ist de Zayas derzeit Präsident
des P.E.N. Zentrums Suisse romande)
|